Null Toleranz

Wie Rabbiner und Gemeinden mit Tätern und Verdächtigen umgehen sollen ...

4 Min.

Rabbiner Elischa Portnoy

gepostet auf 15.03.21

Wie Rabbiner und Gemeinden mit Tätern und Verdächtigen umgehen sollen …

 

Wenn man in der Synagoge während des Jahres das 3. Buch Mose (Wajikra) liest, dann haben es die Rabbiner nicht leicht. In diesem Teil der Tora geht es um den Tempeldienst, um die Pflichten der Priester sowie um die Gesetze der rituellen Reinheit. Bei diesen Themen eine Predigt so vorzubereiten, dass die Synagogenbesucher aufmerksam zuhören, ist keine leichte Aufgabe.

 

Jedoch gibt es im 3. Buch Mose zwei Wochenabschnitte, in denen wir viele spannende Themen finden. In den Paraschot »Acharej« und »Kedoschim«, die oft zusammen an einem Schabbat gelesen werden, stehen viele Gebote zu zwischenmenschlichen Beziehungen – unter anderem auch lange Passagen über verbotene sexuelle Beziehungen.

 

Da hat der Rabbiner einiges zu erzählen: Er kann den Verfall der Sitten anprangern, an die Zniut-Gesetze erinnern und die Gemeinde vor dem Einfluss der Freizügigkeit warnen. Mit einer gut vorbereiteten und durchdachten Rede kann der Rabbiner auf seine Zuhörer starken Eindruck machen und hohe moralische Werte der Tora eindrucksvoll repräsentieren.

 

 

GERÜCHTE

 

Was aber, wenn es plötzlich ganz praktisch wird – wenn über einen Mann, der der Gemeinde angehört, Gerüchte kursieren, er habe Frauen sexuell belästigt oder sogar vergewaltigt? Was passiert, wenn es keine Gerüchte mehr sind, sondern wenn viele Frauen, die Opfer dieses Mannes wurden, darüber öffentlich berichten und die Behörden bereits in mehreren Fällen ermitteln?

 

Und was soll geschehen, wenn es nicht um ein einfaches Mitglied der Gemeinde geht, sondern um einen Prominenten wie den Filmproduzenten Harvey Weinstein, und wenn auch nichtjüdische Medien ausführlich darüber berichten? Wie soll der Rabbiner der betroffenen Gemeinde in einem solchen Fall reagieren? Darf er schweigen, bis er direkt diesbezüglich angesprochen wird, oder soll er selbst eingreifen und den Fall vor der Gemeinde klar benennen? Was sagt das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, dazu?

 

Zunächst muss der Rabbiner auf jeden Fall sicher sein, dass die Anschuldigungen wahr sind und nicht Versuche, den Ruf des bekannten Mannes zu zerstören. Um das zu klären, muss der Rabbiner die beschuldigte Person kontaktieren und seine Meinung zum Fall hören. Es ist verboten, jemanden vorzuverurteilen, ohne beide Seiten des Konflikts zu befragen.

 

Wenn jedoch alles stimmt und der beschuldigte Mann diese Taten tatsächlich begangen hat, muss der Rabbiner dazu unbedingt Stellung nehmen. Und dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens, weil genau in solchen Fällen häufig die Freunde des Sünders sofort zu Hilfe eilen und versuchen, dessen Taten zu relativieren, zu verharmlosen, und oft sogar die betroffenen Frauen beschuldigen, doch selbst schuld zu sein. Dann heißt es, die Opfer hätten den Täter durch freizügige Kleidung und leichtsinniges Benehmen geradezu »provoziert«.

 

 

AUSREDEN

 

Hier muss der Rabbiner ganz klar und deutlich Stellung nehmen und erklären, dass es keine Entschuldigungen und Ausreden für den Täter gibt. Die Halacha stellt eindeutig fest, dass ein Mann seine Triebe kontrollieren kann und soll – und dass deshalb die Schuld voll und ganz bei dem Sünder liegt.

 

Zweitens ist der Rabbiner verpflichtet, »Hillul Haschem« (die Entweihung des g’ttlichen Namens) zu vermeiden. Wenn die nichtjüdische Gesellschaft ganz eindeutig weiß, dass der Täter jüdisch ist, muss alles unternommen werden, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass der Sünder in seiner Gemeinde toleriert oder sogar beschützt wird. Man muss klar zu verstehen geben, dass solche Taten sowohl der Halacha als auch dem Geist der Tora widersprechen und keinesfalls toleriert werden.

 

Wie soll man in der Gemeinde und in der Synagoge mit dem Sünder umgehen? Unsere Weisen lehren im Talmud (Sanhedrin 107b): »Die linke Hand soll wegstoßen, die rechte Hand soll zurückbringen.« Das bedeutet, dass der Sünder bestraft werden soll (damit die anderen Gemeindemitglieder nicht denken, dass Fehlverhalten toleriert wird, und damit anfangen, selbst Sünden zu begehen). Anderseits soll dem Betroffenen die Teschuwa (Umkehr vom falschen Weg) ermöglicht und ihm der Weg aufgezeigt werden, ein neues Leben zu beginnen.

 

Der Täter soll in seiner Gemeinde sanktioniert werden – unabhängig davon, ob er bereits von den Behörden verurteilt wurde oder sogar eine Haftstrafe abgesessen hat. Einziges Kriterium für uns ist, ob er seine abscheuliche Tat öffentlich bereut hat oder ob er die Schuld bei allen anderen sucht, nur nicht bei sich selbst.

 

 

CHEREM

 

Für den Fall, dass der Sünder seine Fehler nicht einsieht, haben unsere Weisen harte Maßnahmen erlaubt, um auf den Täter Druck auszuüben: Er soll mit einem Cherem (Bann) belegt werden, er darf nicht von seiner Gemeinde beerdigt werden, wenn er stirbt, und seinen Söhnen darf die Beschneidung verweigert werden.

 

Es geht sogar so weit, dass die Kinder des Täters von der jüdischen Schule ausgeschlossen werden dürfen und seine Frau nicht in die Synagoge gelassen werden darf, wie Ramo im Schulchan Aruch (Jore Dea 334,6) anbringt.

 

Auch wenn der Sünder einflussreich ist und die Gemeinde im Wesentlichen von seinen Spenden abhängt, dürfen der Rabbiner und die Gemeinde nicht die Augen verschließen, sondern müssen dem Täter Konsequenzen aufzeigen. Man könnte dem prominenten Sünder zum Beispiel keine Alija (Aufruf zur Toralesung) geben oder ihn mit einer anderen Sanktion empfindlich treffen.

 

 

REUE

 

Der Zweck solcher Strafen ist vor allem, den Täter zur Teschuwa zu bewegen und der Gemeinde zu zeigen, dass solche Sünden nicht toleriert werden.

 

Und wenn der Täter nach all diesen Demütigungen aufrichtige Reue zeigt, wenn er sich öffentlich entschuldigt, seine Opfer entschädigt und die anderen Gemeindemitglieder diese Botschaft verstehen, dann haben der Rabbiner und seine Gemeinde ihre Pflicht erfüllt.

 

 

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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