Ungebunden

Die Tora lehrt, dass die Anwesenheit Gottes überall erlebt werden kann.

3 Min.

Chajm Guski

gepostet auf 16.03.21

Die Tora lehrt, dass die Anwesenheit Gottes überall erlebt werden kann

 

Jakob erwacht und sagt: „Tatsächlich, der Ewige ist an diesem Ort, und ich, ich habe es nicht gewusst.“ Wo erwachte Jakob und was hatte er geträumt, dass er diese Offenbarung spürte? Schauen wir zurück: Jakob floh vor seinem Bruder Esau und suchte bei Anbruch der Nacht einen Ort, um sich schlafen zu legen. Er fand einen, schob sich Steine unter den Kopf und schlief ein. In der Nacht träumte er von einer Leiter, die in den Himmel reichte und auf der Engel auf‐ und abstiegen. Er spürte im Traum Gott an seiner Seite, der den Bund erneuerte, den er mit Jakobs Vater Jitzchak und seinem Großvater Abraham geschlossen hatte.

 

Was ist das besondere an diesem Ort, an dem Jakob diesen Traum hatte? Die Tora nennt ihn tatsächlich zunächst nur den „Ort“, hebräisch „Makom“, und dieses Wort lesen wir in den ersten zehn Versen des Wochenabschnitts sieben Mal. An diesem Ort legte er sich einen Stein als Kopfstütze zurecht und schlief darauf. Erst nach der Offenbarung in seinem Traum an genau dieser Stelle nannte Jakob sie Beit‐El, Haus Gottes. Und erst jetzt erfahren wir in der Tora, dass der Ort zuvor schon einen Namen hatte und es sich nicht nur um einen Ort im Sinne von Platz handelte. Im Text finden wir sogar das Wort „Stadt“. „Er nannte diesen Ort Beit‐El, da zuvor der Name der Stadt Luz war“ (1. Buch Moses 28, 19). Es scheint jedoch wenig wahrscheinlich, dass Jakob sich inmitten einer Stadt Steine zusammensammelt um dort zu übernachten, wenngleich der Soforno (1470–1550) meint, „Makom“ sei ein Ort in der Stadt, an dem sich Gäste aufhalten dürften. Es wäre denkbar, dass sich dort die Ruinen der Stadt Luz befanden.

 

Der Talmud setzt im Traktat Pessachim diesen Ort mit dem Berg Morija gleich, auf dem Jitzchak geopfert werden sollte, denn es heißt dort: „… und Abraham sah den Ort (Makom) aus der Ferne“ (1. Buch Moses 32,4). Dies bringt jedoch kein Licht in die genauere geografische Verortung, denn der Berg Morija wird später der Tempelberg sein.

 

Dem Leser der Parascha wird nicht nur ein geografischer Exkurs gegeben, sondern es wird auf eine größere Besonderheit hingewiesen: dass nämlich die göttliche Anwesenheit nicht auf einen bestimmten Ort beschränkt ist, sondern überall erlebt werden kann. Eine Offenbarung Gottes an einem bestimmten Ort macht ja auch andere Orte in der Tora nicht zu einem Beit‐El. Haran, wo Gott zum ersten Mal mit Abraham spricht, wird nicht Beit‐El genannt, auch nicht Beer Schewa (1. Buch Moses 26,24) oder die Furt von Jabok (1. Buch Moses 32,28). Die Präsenz des Göttlichen kann auch an einem Ort erfahren werden, der möglicherweise nur eine Ruine ist. Wen müsste dieser Vers mehr ansprechen als diejenigen, die in Deutschland etwas Neues aufgebaut haben?

 

Wie diese Präsenz erfahrbar gemacht werden kann, erklärte Rabbiner Menachem Mendel aus Kotsk, genannt der Kotsker Rebbe, anhand des Wochenabschnitts. Er schenkte dem zusätzlichen „ich“ im eingangs genannten Satz besondere Aufmerksamkeit: „… und ich, ich habe es nicht gewusst.“

 

Im hebräischen Original hätte es ausgereicht zu schreiben: „lo jadati“ („ich wusste nicht“). In der Tora aber lesen wir ein zusätzliches „anochi“ („ich“): „Anochi lo jadati“ – „ich, ich wusste es nicht“. Der Kotsker Rebbe sagte, dieses zusätzliche „anochi“ stehe für das menschliche Ego. Jakob sei so sehr mit sich selber und seiner Situation beschäftigt, dass er das Göttliche um ihn herum nicht wahrnehmen könne. Die Fokussierung auf sein Ich mache ihn blind für die Welt und die Ereignisse dahinter. Der Kotsker Rebbe forderte eine völlige Verneinung dieses Ichs, um die göttliche Präsenz zu erfahren.

 

So weit müssen wir heute nicht gehen, um den richtigen Weg zu finden. Die Tora gibt einen Weg vor, der die Überwindung dieses Egoismus lehrt: Wir sollen den Alltag heiligen und jeden noch so einfachen Handgriff zu etwas Besonderem machen. Abraham Joschua Heschel nannte dies die „Möglichkeit, das Unendliche wahrzunehmen, selbst wenn wir das Endliche tun.“ Das macht auch Jakob, indem er dem Ort Luz eine zusätzliche Bedeutung hinzufügt, nämlich dadurch, dass er ihm einen he‐ bräischen Namen gibt und ihn so besonders auszeichnet, wenngleich Gott überall zu finden ist. Aus Luz wird Beit‐El, so wie Jakob an anderer Stelle in diesem Wochenabschnitt, in 1. Buch Moses 31,47, aus einer weiteren nichthebräischen Ortsbezeichnung eine hebräische macht: „Laban nannte ihn Jegar Sahaduta (deutsch: Steinhaufen zum Zeugnis). Und Jakob nannte ihn Gal Ed (Steinhaufen zum Zeugnis).“

 

An genau dieser Stelle finden wir die einzigen aramäischen Worte in der Tora, und diese werden umgehend durch die Worte Jakobs ersetzt. Jakob verwendet also nicht das Aramäische, wie es sein Onkel Laban tut. Der Ramban (Rabbiner Mosche ben Nachman, 1194–1270) schreibt, dass die Patriarchen ursprünglich nur Aramäisch sprachen, dann aber in Kanaan Hebräisch, die Sprache des Landes, angenommen hätten, vor allem um ihre neue Identität zu unterstreichen und ihre neue Existenz tatsächlich zu heiligen. Mit der neuen Sprache ist auch ein Paradigmenwechsel verbunden hin zu einem Leben ohne die Anbetung verschiedener Götzen an bestimmten Orten. Zuweilen, so lernen wir in diesem Wochenabschnitt, bleiben die Dinge dieselben, aber unsere Sichtweise auf sie ist eine andere, eine jüdische.

 

 

Mehr über den Autor finden Sie hier. Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen.

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