Vom Sinn der Halacha

Zweck der alle Bereiche des Lebens umfassenden halachischen Praxis ist und bleibt es, ständig eine Beziehung mit dem Ewigen zu strukturieren.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 05.04.21

Religionsphilosophie

Den Rang eines Philosophen zu bestimmen, ist keine einfache Angelegenheit. Im Grunde sind Laien bei einer solchen Aufgabe auf die Einschätzung von Fachleuten angewiesen. Ist Rabbiner David Hartman ein bedeutender Denker? Immerhin ist ihm ein Artikel in „Metzlers Lexikon jüdischer Philosophen“ gewidmet. In diesem 2003 veröffentlichten Werk werden 189 intellektuelle Profile gezeichnet; Hartman (Jahrgang 1931) ist einer der wenigen hier behandelten Denker, die noch unter uns weilen. Rechtzeitig zu seinem 80. Geburtstag hat der seit 1971 in Israel lebende Hochschullehrer ein neues Werk vorgelegt, welches in Zusammenarbeit mit Charlie Buckholtz entstanden ist.

Hartman ist ein ausgewiesener Maimonides-Forscher , und auch in seinem neuen Buch zitiert er etliche Stellen aus dem Werk des großen mittelalterlichen Philosophen und Halachisten. Aber es geht Hartman nicht bloß um die Interpretation der Religionsphilosophie von Maimonides; er bespricht aktuelle Probleme unserer Zeit. Es ist zwar immer problematisch, einen originellen Denker in eine bestimmte Schublade einordnen zu wollen, aber es ist doch möglich, seine Position irgendwie einzukreisen. Hartman befindet sich am linken Flügel der modernen Orthodoxie, zu der man auch seinen Freund Rabbiner Irving (Yitz) Greenberg rechnen kann. Zur  Greenberg-Festschrift hat er   einen lehrreichen Beitrag über Moses Maimonides geschrieben, der übrigens einen Titel bekam, der zum Text überhaupt nicht passt.

Beide Philosophen waren Schüler von Rabbiner Joseph B. Soloveitchik, die sich jedoch in einigen Punkten von den Ansichten ihres berühmten Lehrers entfernt haben. Hartman betont, dass er Soloveitchik sehr viel verdankt, aber in der umstrittenen Sache bleibt er ganz hart und kompromisslos. Als Gemeinderabbiner wurde Hartman mit halachischen Fragen konfrontiert, die er anders behandelte als Soloveitchik es getan hat. Den Grund für seine vom Meister abweichende Entscheidung erklärt er damit, dass die Halacha eine moralische Kritik nötig habe. Bei dieser Meinungsverschiedenheit geht um die Grenzen der Orthodoxie.

Der Autor referiert eine grundsätzliche Diskussion zwischen Rabbiner Emanuel Rackman und seinem Lehrer Soloveitchik über die Lösung des Problems von Frauen, deren Männer nicht in eine Scheidung einwilligen wollen. Die Argumente beider Seiten werden dargelegt, und es ist klar, dass Hartman die Einstellung seines Lehrers für falsch und verhängnisvoll  hält. Er spricht davon, die moderne Orthodoxie habe einen falschen Weg eingeschlagen.

Fragen, die der moderne jüdische Feminismus aufgeworfen hat, greift Hartman auf. Er zitiert auch seine Tochter Tova Hartman, die 2007 ein Buch über Konflikte zwischen Feminismus und Judentum in englischer Sprache veröffentlichte. Der Autor kritisiert eine bestimmte Form der Apologetik, weil sie seiner Meinung nach nicht wirklich den Tatsachen entspricht. Der Titel des  neuen Buches, „Der Gott, der Lügen hasst“, verweist auf  hier und da vorgebrachte Annahmen, die mehr als fragwürdig sind und die viele moderne Juden daher nicht akzeptieren wollen.

Lesenswert ist die neue Studie von Hartman, weil sie eine philosophische Deutung des Religionsgesetzes (Halacha) ausbreitet. Nach Ansicht des Autors darf man in der Halacha nicht nur ein System von Vorschriften sehen; sie ist vor allem als ein Erziehungssystem zu begreifen. Die Gebote und Verbote der Tora sind dazu geeignet, unser Bewusstsein von Gottes Gegenwart zu stärken. Zweck der alle Bereiche des Lebens umfassenden halachischen Praxis ist und bleibt es, ständig eine Beziehung mit dem Ewigen zu strukturieren. Hartman meint, dass die Halacha unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Typen von Individuen und Gemeinschaften gewinnen kann. Sie führt den Menschen zur (von der Tora gebotenen) Gottesliebe auf unterschiedlichen Wegen.

In einer seiner autobiografischen Bemerkungen bekennt Hartman, dass er in den 18 Jahren seiner Tätigkeit als Gemeinderabbiner in Amerika selten die Gottesliebe in den Vordergrund der halachischen Erziehung oder Praxis gerückt habe.  Erst die Lebenserfahrung und weitere Studien brachten ihn dazu, das halachische System nach den Gegebenheiten unserer Zeit neu zu interpretieren. Er spart nicht an Kritik am religiösen Establishment in Israel. Auch solche Personen, die nicht immer die Meinung  des humorvollen Autors teilen  können, werden sein neues Buch mit Gewinn und Genuss lesen.

David Hartman (with Charlie Buckholtz), The God Who Hates Lies: Confronting & Rethinking Jewish Tradition. Jewish Lights Publishing. Woodstock 2011.192 Seiten.

 

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

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