Zurechtweisen ist eine Kunst

Bekanntlich haben Israels Propheten die Menschen im Auftrage Gottes oft zurechtgewiesen, um sie auf den Weg der Teschuwa zu bringen.

3 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 15.03.21

Im Talmud (Erechin 16 b) finden wir erstaunliche Bemerkungen über das Gebot der Zurechtweisung eines Sünders. In der Tora lesen wir: „Hasse deinen Bruder nicht in deinem Herzen. Zur Rede, wiederholt zur Rede stelle deinen Nächsten, lade aber darob nicht Sünde auf dich“ (3.Buch Mose 19,17). Die im zitierten Vers erwähnte Pflicht ist nach Moses Maimonides eine der 613 Mitzwot (Gebot Nr. 205). Bemerkenswert sind Feststellungen von Tannaiten über die Praxis: „Rabbi Tarfon sagte: Es würde mich wundern, wenn es in diesem Zeitalter jemand geben sollte, der Zurechtweisung annimmt. Sagt man zu einem: Nimm den Splitter, der zwischen deinen Augen, so erwidert er: Nimm du den Balken, der zwischen deinen Augen. Rabbi Eleazar Ben Azaria sagte: Es würde mich wundern, wenn es in diesem Zeitalter jemand geben sollte, der zurechtzuweisen versteht.“

 

Aus den Aussagen von Rabbi Tarfon und von Rabbi Eleazar Ben Azaria darf man nicht den Schluss ziehen, dass ihre Zeitgenossen (und deren Nachkommen) von der Pflicht des Zurechtweisens befreit sind. Ein Gebot der Tora kann man nicht als ungültig betrachten! Die Tannaiten wollten lediglich darauf aufmerksam machen, dass Zurechtweisen nur dann möglich und sinnvoll ist, wenn bestimmte Vorraussetzungen gegeben sind. Bevor man dieses Tora-Gebot auszuüben versucht, muss man allerdings die Regeln kennen, die in der Praxis zu beachten sind. Sonst kann man großen Schaden anrichten statt Positives zu bewirken.

 

Sinn der Mitzwa ist es, den irrenden Glaubensgenossen auf den rechten Weg zurückzuführen; man sollte ihm deutlich machen, dass er durch seine schlechten Taten gegen sich selbst gesündigt hat. Dieses Ziel kann man natürlich nur dann erreichen, wenn beide Seiten korrekt miteinander umgehen. Wird z.B der Zurechtgewiesene bei der Ansprache beschämt, dann versündigt sich sein „Therapeut“. Rabbi Eleazar Ben Azaria hat auf diese Gefahr eindringlich hingewiesen. Zurechtweisen ist eine Kunst, die regelrecht gelernt sein will.

 

Der vor wenigen Jahren verstorbene israelische Oberrabbiner Ovadja Yossef, Verfasser zahlreicher Responsa, hat mehr als einmal gesagt, dass man Juden, die den Schabbat entweihen, indem sie am Ruhetag Auto fahren, keineswegs anschreien darf. Denn die Autofahrer verstehen gar nicht, was man ihnen sagt, und es ist daher gar nicht geboten, sie zu ermahnen. Der Protest erzeuge lediglich Hass gegen die Zurechtweiser, auch wenn nur eine gute Absicht sie geleitet habe. Gerade beim Zurechtweisen muss man stets die Folgen mitbedenken.

 

Andererseits sollte jeder auch bedenken, dass die Unterlassung einer Zurechtweisung eine Sünde sein kann. Maimonides stellt in seinem halachischen Kodex (Hilchot Deot 6,7) fest: „Wer einem Unrecht Einhalt gebieten könnte und unterläßt es, macht sich mitschuldig, da er ihm ja hätte wehren können.“ Rabbiner Mosche Sternbuch bemerkte einmal, dass die stummen Granatäpfel am Saumes des Mantels, den der Hohepriester im Heiligtum zu tragen hatte (siehe 2.Buch Mose 28, 33-35), Sühne für Vorkommnisse sündigen Schweigens bewirkten.

 

Bekanntlich haben Israels Propheten die Menschen im Auftrage Gottes oft zurechtgewiesen, um sie auf den Weg der Teschuwa (Umkehr) zu bringen. Aus dieser historische Tatsache leitet Maimonides in seinem halachischen Kodex (Hilchot Teschuwa 4,2) folgende Anweisung ab: „Jede Gemeinde soll darum einen sehr weisen und erfahrenen Mann, der seit seiner Jugend gottesfürchtig war und beim Volke beliebt ist, anstellen, damit er das Volk öffentlich ermahne und sie zur Teschuwa veranlasse.“

 

Beachtenswert ist es, welche Eigenschaften der Prediger (Rabbiner) nach der Auffassung von Maimonides haben soll: sehr weise und erfahren, gottesfürchtig von Jugend an und beim Volke beliebt. Diese Kombination ist durchaus möglich, aber gewiss nicht leicht zu finden. Der babylonische Amoräer Abaje wusste um die Problematik der Beliebtheit eines Tora-Gelehrten. Er sagte „Lieben die Einwohner der Stadt einen Gelehrten, so geschieht dies nicht, weil er besser ist, sondern deshalb, weil er sie nicht zurechtweist in göttlichen Angelegenheiten“ (Ketubot 105 b). Es ist jedenfalls festzuhalten, dass Zurechtweisen zu den Aufgaben eines Gemeinderabbiners gehört.

 

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

Sagen Sie uns Ihre Meinung!

Danke fuer Ihre Antwort!

Ihr Kommentar wird nach der Genehmigung veroeffentlicht.

Fuegen Sie einen Kommentar hinzu.