Der wichtigste Seder-Abend

Vor vielen Jahren ereignete sich die folgende Geschichte - wenige Stunden vor dem jüdischen Pessach Fest ...

7 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 05.04.21

Vor vielen Jahren ereignete sich die folgende Geschichte –  wenige Stunden vor dem jüdischen Pessach-Fest.
 
Es ist bekannt, dass bei den Chassidim jeder Seder-Abend (das rituelle Festessen in der Nacht des Feiertages) von unbeschreiblich guter Laune und Freude geprägt ist. So war es auch seinerzeit am Tisch des Zaddiks und weisen Rabbis der Karliner Chassidim, dem großen Rabbi Ahron.
 
Rabbi Ahron führte den Seder-Abend gemäß den spirituellen Grundregeln der Kabbala durch. Seine Schüler, die mit ihm am Tisch saßen verspürten ein ganz wunderbares Gefühl – so als ob sie über den Wolken schwebten! Jeder von ihnen fühlte sich jetzt wie in der Situation, als würde Gott gerade sein Volk aus Ägypten herausführen, mit Hilfe von unbeschreiblichen und faszinierender Wundern.
 
Doch plötzlich verstummte Rabbi Ahron und schloss konzentriert seine Augen. Nach wenigen Augenblicken war es im Haus des Rabbis ganz still! Doch nach ein paar Minuten öffnete er wieder seine Augen mit einem herzlichen Lachen. Seine Chassidim freuten sich natürlich sehr, ihren Rabbi so gut gelaunt zu sehen. Allerdings wollten sie nun auch unbedingt wissen, was er denn in seiner Gedankenwelt gesehen hatte!
 
„Ihr alle seid bestimmt alle einer Meinung, dass es auf der ganzen Welt keinen so wunderbaren Seder-Abend wie den unseren mehr gibt! – Stimmt es oder habe ich recht?!“ fragte Rabbi Ahron seine Schüler und fuhr fort:
 
„Doch in Wahrheit gibt es in diesem Jahr keinen Seder-Abend, der für Gott so wichtig und schön ist wie der vom schlichten Schuhmacher Michael!“
 
Die Schüler verstanden diese Aussage nicht und deshalb erwiderte einer von ihnen erstaunt: „Rabbi, wir wollen natürlich niemanden etwas Schlechtes nachsagen oder jemanden als minderwertig uns gegenüber einstufen, geschweige denn uns selber als hochwertig erscheinen lassen; doch es stellt sich uns die Frage, was denn nun an dem Seder-Abend des schlichten Schuhmachers Michael so außergewöhnlich und besondere sein soll, dass er in den Augen Gottes sogar noch höher steht als dieser Seder mit unserem Rebben!"
 
 Darauf antwortete ihnen der Rabbi noch immer lächelnd: „Dann geht doch ruhig alle gemeinsam zum Schuhmacher Michael nach Hause und seht selber!“
 
Gesagt – getan. Alle machten sich flink zum Haus des Schuhmachers Michael auf, um selbst zu sehen, weshalb dessen Seder auf dem Gipfel der Wichtigkeit für Gott stünde.
 
Dort angekommen versammelten sich alle still vor dem Haus des Schuhmachers – genau unter seinem Fenster. Dabei konnten sie dann folgendes beobachteten:
 
Sie sahen, dass Michael nicht gerade sehr festlich mit seiner Frau am Tisch saß und den Seder vollzog! Im Gegenteil, mit dem Mazza-Tablett in der Hand sagte er zu seiner Frau:
„Schatz! Mein über alles geliebter Engel! Komm, bitte lass uns doch mit dem Seder-Abend beginnen! Den Seder kann man nur ein einziges Mal im Jahr halten, daher lasse ihn uns doch bitte auch mit einem schönen romantischen Candlelight Dinner verbinden …“
 
Die Frau Michaels war – gelinde gesagt – am kochen! Wutentbrannt riss sie ihm das Mazza-Tablett aus der Hand und warf es zu Boden und schrie:
 
„Vergiss es! Den Seder-Abend kannst du dieses Jahr vergessen!!! …“
 
Michael antwortete seiner Frau freundlich und mit beruhigender Stimme:
 
 „Meine Prinzessin, bitte beruhige dich doch! Ich möchte doch nur, dass du weißt, in meinen Augen gibt es auf der ganzen Welt keine andere, die so süß ist wie du! Jeden Tag bedanke ich mich bei Gott dafür, dass Er mir solch eine bezaubernde Frau wie du eine bist, an meine Seite gestellt hat! – Bitte Schatz, lass uns doch bitte gemeinsam etwas essen und den Seder machen! Nur heute bietet sich uns diese Möglichkeit … wenn wir sie verpassen, müssen wir bis zum nächsten Jahr darauf warten …!
 
Noch wütender schrie ihn seine Frau daraufhin an:
 
„Was ist heute eigentlich mit dir los?! Verstehst du denn nicht die deutsche Sprache?! Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal: Heute gibt es keinen Seder – und essen kannst du von mir aus beim Nachbarn …!“
 
Michael sagte daraufhin keinen Ton mehr und wandte sich mit seinem Herzen zu Gott mit folgenden Worten:
 
„Lieber Gott, vielen Dank! Gelobt und gepriesen seiest Du! Ich weiß, dass alles von Dir ausgeht! Bitte vergib mir meine Schuld und beschenke mich mit der Erlaubnis, den Seder gemeinsam mit meiner Frau ausführen zu dürfen. Ich weiß, dass Du es bist der mich bisweilen daran hindert – und nicht etwa meine bezaubernde Frau! Bitte vergib mir! “
 
Als die Frau Michaels nach seinem kurzen Gebet aus der Küche ins Esszimmer zurückkam, schrie sie erneut auf ihn ein: „Was schaust du denn die ganze Zeit so blöd, du Idiot! … Ach so eine Schande – wie dumm war ich doch damals nur … wie konnte ich dich nur heiraten …!“
 
Der Schuhmacher Michael stand auf und sprach vor Hingabe und Liebe zu seiner Frau:
 
„Liebling! Wirklich, wie soll ich es Dir sagen, aber mir fehlen die Worte, um dir klarzumachen, wie sehr ich dich liebe und wie wichtig du für mich bist! Niemand anderes ist so schön ist wie du! Bitte sag mir doch endlich, was dich so sehr bedrückt. Ich verspreche dir, jeden deiner Wünsche zu erfüllen! Ich mache alles, was du sagst und kaufe dir, was immer du möchtest, aber lass uns doch jetzt bitte gemeinsam den Seder beginnen, es ist doch so schade um das gute Essen, das du uns voller Liebe zubereitet hast …!“
 
Nachdem Michael dies gesagt hatte, machte er sich auf den Weg in die Küche um das Mazza-Tablett zu holen. Und auch jetzt ergriff er erneut seine Chance und wandte sich in seinem Herzen zu Gott und betete: „Lieber Gott, bitte hilf mir und lasse mich erkennen, dass ich mich gerade in einer mir von Dir auferlegten Glaubensprüfung befinde. Schenke mir doch bitte den weisen Blick, der es mich erkennen lässt, dass Du es bist, der mich prüft! Du prüfst mich lediglich und möchtest, dass ich einen kühlen Kopf bewahre und meine Frau respektiere, sie also weder anschreie noch bloßstelle, geschweige denn sie stoße. Du möchtest, dass ich doch verstehen möge, dass alles an meiner bezaubernden Frau gut ist! Und alles, was ich an ihr als schlecht oder negativ bewerte, ist in Wahrheit nur eine von dir inszenierte Glaubensprüfung, die mich daran erinnern soll, das meine Frau vollkommen gut ist und ich sie deshalb auch uneingeschränkt zu respektieren habe.
 
Bitte hilf mir, damit ich nicht meine Nerven verliere! Lege mir bitte das Wissen ins Herz, dass es unendlich viel wichtiger ist, keinen Seder zu begehen, wenn dieser zur Folge hat, dass ich mit meiner Frau Streit habe …
 
Bitte hilf mir, immer glücklich zu sein und schenke mir Freude. Lass mich wissen, dass Du lediglich möchtest, dass ich erkenne, dass es Dich gibt und deshalb kommt es darauf an Dich bei allem in meinem Leben kennen und schätzen zu lernen.
 
Lege mir also die Weisheit ins Herz, dass ich mit dem, was ich tue, genau das mache, was Du von mir erwartest, auch wenn ich deshalb solch ein unbeschreibliches wichtiges Gebot wie den Seder-Abend nicht ausführen kann. Hauptsache ich respektiere und ehre meine Frau.“
 
Als Michael aus der Küche zurückkam, stellte er das Mazza-Tablett auf den Tisch. Seine Frau sprang erneut blitzschnell vom Stuhl auf, nahm das Tablett und trug es, wie eine Furie schreiend, in die Küche zurück: „Verdammt noch mal! Bist du wirklich so blöd oder tust du nur so? Ich habe dir nun schon zum x-ten Mal gesagt, du wirst heute keinen Seder-Abend feiern! Nicht hier und nicht mit mir! … Andauernd verletzt du mich nur, du bist ein richtiger Mistkerl …!“
 
Und Michael blieb seiner Linie treu und sagt erneut voller Liebe und Verständnis zu seiner Frau: „Ach mein Engel, wie recht du doch hast! Ich versteh dich wirklich voll und ganz! Ich liebe dich so sehr, mein Schatz! Es tut mir wirklich unendlich leid, dass ich dir so viel Leid zufüge! Von nun ab werde ich mich nur noch wie ein guter Ehemann verhalten! Versprochen! Ab sofort werde ich dich nie wieder kränken oder verletzen. Wenn du es wünschst, könnten wir aber dennoch den Seder-Abend jetzt begehen, denn es bleibt uns nicht mehr viel Zeit – bald ist Mitternacht und danach kann man ihn nicht mehr beginnen …“.
 
Anschließend wandte er sich erneut in seinem Herzen  zu Gott: „Lieber Gott! Bitte schenke mir Weisheit! Lass mich deutlich wissen, dass es auf dieser Welt nur Dich gibt! Und dass es  gerade jetzt Dein Wille ist, dass ich meine Nerven behalte. Ich hatte gedacht, das Du von mir am meisten erwartest, dass ich einen Seder-Abend vollziehe; doch nun sehe ich, dass Du etwas völlig anderes von mir willst. Nämlich dass ich diese Glaubensprüfung bestehe und nicht der Verzweiflung verfalle oder wütend werde …“
 
Die eben geschilderten Ereignisse im Hause des schlichten Schuhmachers Michael erstreckten sich über einen Zeitraum von vollen sechs Stunden!
 
Michael sprach stets aus tiefsten Herzen zu seiner Frau – voller Liebe und Hingabe. Außerdem betete er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu Gott. Doch er erntete dabei andauernd nur aufs Neue Wutausbrüche, Beschimpfungen und Beleidigungen von Seiten seiner Frau. Nach sechs Stunden dann ereignete sich  etwas völlig Verrücktes. Die Frau Michaels bekam nämlich – wie aus dem Nichts – einen völligen Sinneswandel! Auf einmal und ohne jede Vorwarnung erfüllte sich ihr Herz mit Freude und Gelassenheit. Jetzt plötzlich wollte sie unbedingt den Seder-Abend mit ihrem über alles geliebten Mann feiern!
 
So saßen sie dann doch noch gemeinsam am Tisch und feierten voller gegenseitiger Liebe den Beginn des Pessach-Festes!
 
Für den Seder selbst blieb ihnen natürlich nicht mehr viel Zeit, daher erledigten sie ihn auch geschwind in Windeseile und am Ende waren sie wie neu Verliebte.
 
Die Schüler des Rabbis, die das alles mit angesehen hatten, waren völlig schockiert! Sie waren fassungslos darüber, wie sich so plötzlich alles am Ende  doch noch  zum Guten gewendet hatte –  nach dem Motto: „Ende gut – alles gut!“
 
Doch in Wahrheit hat jeder von ihnen nur auf den Moment gewartet, dass Michael völlig seine Nerven verlieren würde … Jener schlichte Schuhmacher Michael – so bezeichneten sie ihn zumindest – hat ihnen einen faszinierenden Kurs in Sachen EMUNA (der auf Wissen beruhende Glaube an Gott) geliefert! Er zeigte ihnen unmissverständlich , dass an Gott zu glauben bedeutet, zu 100 Prozent zu wissen, dass es Gott gibt und Er alles und jeden auf dieser Welt lenkt!
 
Anschließend kamen sie dann auch zu der Erkenntnis, dass der Seder-Abend von Michael wohl um einiges wertvoller sei als der ihres Rabbis, so wie er selbst sagte:
 
„… Doch in Wahrheit gibt es in diesem Jahr keinen Seder-Abend, der für Gott so wichtig und schön ist wie der vom schlichten Schuhmacher Michael!“ 
 
Ich denke hierzu kann man nichts hinzufügen – ich lasse daher den Gedanken eines jeden Lesers freien Lauf … !

 

Klicken Sie hier um das Video von der Bedeutung des Seders für uns zu sehen!

 

 

Pessach kascher weSameach !

 

 

David Kraus (M.A in Psychologie und Integrativer Psychotherapie | Dipl. Paar- und Familientherapeut | Dipl. Pädagogischer Elternberater) ist Oberrabbiner der Jüdisch-Chassidischen Kultusgemeinde Breslev Deutschland / Israel mit Sitz in Hanau. David Kraus finden Sie bei Facebook.

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