Die “Schmitta” in unserer Zeit

Gott als Eigentümer des menschlichen Besitzes. Nach der Auffassung der Tora ist nicht ein Jahr wie das andere. Vielmehr ist ein Zyklus von 7 Jahren zu beachten.

8 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 17.03.21

1. Was ist Schmitta?

Nach der Auffassung der Tora ist nicht ein Jahr wie das andere. Vielmehr ist ein Zyklus von 7 Jahren zu beachten. Im 7. Jahr, Schmitta-Jahr genannt (Deuteronomium, Kap. 15,9), sind bestimmte Gesetze (hebr.: Mitzwot) einzuhalten, die in den anderen Jahren nicht gelten. Die Parallele zum 7. Tag der Woche ("Schabbat") springt gleich ins Auge: Am Schabbat sind bestimmte Handlungen als Arbeit verboten, und dies ist auch im Schabbat-Jahr der Fall (man vergleiche Exodus, Kap. 20 mit Leviticus, Kap.25).

Durch eine simple Rechenoperation kann jeder ermitteln, in welchem Jahr des Zyklus wir uns gerade befinden. Die Zahl des jüdischen Jahres muss man durch 7 teilen; geht die Rechnung ohne Rest auf, so handelt es sich um ein Schmitta-Jahr. Diese Zeilen wurden Anfang des Jahres 5775 (= Herbst 2014) geschrieben; 5775 durch 7 geteilt ergibt: 825 – wir haben also gerade ein Schmitta-Jahr. Bleibt bei der Teilung ein Rest übrig, so gibt uns die Zahl (1 bis 6) an, in welchem Jahr des Zyklus wir uns befinden.

Den Begriff "Schmitta" haben wir nun schon mehrfach verwendet. Wie ist dieses hebräische Wort zu übersetzen? Rabbiner Samson Raphael Hirsch stellt mit Recht fest:"Es ist schwer, einen Ausdruck zu finden, der wie die hebräische Wurzel schin-mem-tet, eigentlich aus der Hand lassen, ebenso auf Schuldenerlass wie auf Bodenrast und Güterentlastung passend wäre." Die Schwierigkeit für Übersetzer besteht also darin, dass der Begriff Schmitta unterschiedliche Sachverhalte meint. Hirsch sowie andere Übersetzer sprechen vom "Jahr des Erlasses"; in ihrer Pentateuch-Übertragung reden Martin Buber und Franz Rosenzweig vom "Jahr der Ablockerung". Merken muss man sich, dass Schmitta verschiedenartige Mitzwot umfasst, die mit dem 7. Jahr zusammenhängen.

Wie wichtig das Einhalten der Schmitta-Vorschriften ist, verdeutlicht die in der Tora genannte Strafe, die auf Nichteinhaltung steht (siehe Leviticus, Kap. 26,Verse 34,35,43). Im Talmud (Sprüche der Väter, Kap. 5,11) heisst es, dass die Verletzung der Brachjahrespflicht mit Verbannung bestraft wird. In seinem Kommentar zur Stelle erklärt Rabbiner S.R. Hirsch: "Schmitta, das Brachlassen des Landes im Schabbatjahr, ist die große öffentliche Proklamierung Gottes als Herren und Eigentümers des Landes, das uns nur unter der Bedingung der Anerkennung Seiner Herrschaft und der Vollbringung Seines in Seinem Gesetz ausgesprochenen Willens zum Lohn geworden. Die öffentliche Verleugnung Seiner Herrschaft und Landeshoheit brechen von selbst den Stab über die gott- und pflichtvergessenen Bewohner Seines Landes und weisen sie hinaus ins Exil."

Die Weisen Israels haben das 70-jährige Exil in Babylonien in Beziehung gesetzt zu 70 Schmitta-Jahren in der Zeit vor der Verbannung, in der die Schmitta-Gesetze nicht korrekt eingehalten wurden (siehe Raschis Kommentar zu Leviticus, Kap. 26,35). Es ist bemerkenswert, dass in dem Bund, den die Rückkehrer aus dem Exil schlossen, beide Formen der Schmitta ausdrücklich angeführt werden: "Und dass wir im siebenten Jahre das Feld preisgeben so wie jegliches Darlehen" (Nehemia, Kap.10,32). Historiker haben bemerkt, dass in der nachexilischen Zeit die Juden im Lande Israel auch unter schwierigen Umständen die Schmitta zu halten bemüht waren. Leicht war die Erfüllung der Schmitta-Gesetze gewiss nicht; schon die Tora spricht die im Schabbatjahr aufkommenden Bedenken an.

Bevor wir die Tora-Passagen über Schmitta anführen, sei an die Tatsache erinnert, dass Juden nicht nur die Schriftliche Tora zu beachten haben, sondern auch die Anweisungen der Mündlichen Lehre. Das Mischna-Traktat über Schmitta ("Schewiit" genannt) enthält in zehn Kapiteln eine Fülle von Angaben, wie Schmitta in der Praxis auszusehen hat. "Schewiit" wird übrigens nur im Jerusalemer Talmud und nicht im Babylonischen Talmud erörtert.

 Anzumerken ist, dass in unserer Zeit nach Ansicht der meisten halachischen Autoritäten Schmitta lediglich eine rabbinische Anordnung ist. Denn die von der Tora verlangte Schmitta ist nur unter bestimmten Bedingungen einzuhalten, die in der Gegenwart nicht mehr gegeben sind. Selbstverständlich befolgen gesetzestreue Juden penibel auch solche Vorschriften, die nur rabbinischen Ursprungs sind.

2. "Mein ist das Land"

Vom Brachjahr ist nicht nur an einer Stelle im Pentateuch die Rede. Im Buch Exodus heisst es: "Und sechs Jahre sollst du dein Land besäen und seinen Ertrag einfahren, aber das siebte hindurch lässest du es fahren und sagst dich von ihm los, dass es die Armen deines Volkes geniessen und was diese übrig lassen das Tier das Feldes esse, also tust du deinem Weinberge, deinem Ölbaum" (Kap. 23, 10 u. 11). Ausführlicher beschreibt das Buch Leviticus das Schmitta-Jahr: "So ihr in das Land kommet, das ich euch gebe, so feiere das Land eine Feier des Ewigen. Sechs Jahre besäe dein Feld und sechs Jahre beschneide deinen Weinstock und sammle seinen Ertrag ein. Aber im siebenten Jahre sei eine Schabbatfeier für das Land, eine Feier des Ewigen; dein Feld sollst du nicht besäen und deinen Weinstock nicht beschneiden, den Nachwuchs deiner Ernte sollst du nicht ernten und die Trauben deiner ungepflegten Weinstöcke sollst du nicht lesen; ein Feierjahr sei für das Land. Und es sei die Feier des Landes für euch zum Essen, für dich und deinen Knecht und deine Magd und für deinen Mietling und Beisass, die bei dir weilen. Und für dein Vieh und die Tiere, die in deinem Lande, sei all dessen Ertrag zum Essen" (Kap. 25, 2 bis 7). Wie die Rabbinen diese Verse ausgelegt haben, erläutert Rabbiner Hirsch ins Detail gehend in seinem deutschsprachigen Kommentar.

Zwei Aspekte der landwirtschaftlichen Schmitta sind voneinander abzuheben. Einerseits sind dem Landwirt im Lande Israel bestimmte Arbeiten verboten; andererseits wird die Ernte eines Schmitta-Jahres enteignet und allen zum Essen freigegeben. Es zeigt sich, dass Schmitta sowohl eine religiöse als auch eine soziale Seite aufweist. Der Landwirt anerkennt durch seine Nichtarbeit und durch die Freigabe des Gewachsenen, dass Gott der Eigentümer des Bodens ist: "Mein ist das Land; denn nur Fremdlinge und Einsassen seid ihr bei mir" (Leviticus, Kap.25, 23). Die soziale Komponente der Schmitta besteht darin, dass Bedürftige sich im Feld bedienen dürfen und nicht um eine milde Gabe betteln müssen. Nur alle sieben Jahre ist Schmitta – aber diese Institution ist für religiöse Menschen sehr lehrreich!

In der Praxis sind außerordentlich viele Einzelheiten zu berücksichtigen, die im Rahmen dieses Artikels nicht zu referieren sind. Um einen Eindruck von der Menge der in der Fachliteratur erörterten Fragen zu vermitteln, sei erwähnt, dass das informative hebräischsprachige Schmitta-Buch von Rabbiner Joseph Zwi Rimon mehr als 400 Seiten stark ist. Die zahlreichen Schmitta-Vorschriften sind nicht nur für Landwirte im Lande Israel von Bedeutung, sondern ebenfalls für die Verbraucher. Denn mit Gemüse und Obst des Schmitta-Jahres darf man ob ihrer Heiligkeit (hebr.: keduschat schewiit) vieles nicht machen, so z.B. nicht den üblichen Handel mit ihnen treiben; auch ist es verboten, diese Nahrungsmittel zu vernichten.

Das Brachjahr betrifft im Grunde nur das Land Israel, aber da heutzutage israelische Produkte in alle Welt exportiert werden, müssen Juden in der Diaspora sich mit den Schmitta-Regeln vertraut machen, wenn sie koschere Nahrungsmittel essen wollen. Deshalb hat Rabbiner Saul Wagschal in seinem ins Deutsche übersetzte Buch "Koscher durch das Jahr" der Schmitta in der Diaspora ein ganzes Kapitel gewidmet.

Das Judentum ist als eine "Streit-Kultur" bekannt. Diese Diskussionskultur zeigt sich jedes Mal, wenn das Schmitta-Jahr kommt – da treten regelmäßig eine Reihe von Meinungsverschiedenheiten auf. Wie können jüdische Landwirte in dieser Zeit Geld verdienen? Wie kann die Versorgung der israelischen Bevölkerung mit landwirtschaftlichen Produkten im Schabbat-Jahr sichergestellt werden? Das sind zwei ernste Fragen, über die verschiedene religiöse Gruppen unterschiedlich denken. Die religionsgesetzlichen Diskussionen sind bereits in mehreren umfangreichen Werken dokumentiert worden, und jedes siebente Jahr  wächst die Literatur über die Schmitta.

Im heutigen Israel kann man drei verschiedene "Schulen" voneinander abheben. Die eine Gruppe versucht dem Problem ganz konsequent auszuweichen, indem sie zunächst im Kühlhäusern gelagerte Produkte aus dem 6. Jahr des Zyklus verzehrt und später in Jahr auf Importe aus dem Ausland zurückgreift. Dass es gelegentlich zu Betrügereien kommt – israelische Produkte werden exportiert und dann wieder mit einem falschen Zertifikat versehen importiert -, kann die Existenz des einfachen Systems nicht grundsätzlich erschüttern.

Wer aber die israelisch-jüdische Landwirtschaft unterstützen möchte, muss einen anderen Weg beschreiten. Zwei Modelle stehen zur Auswahl; ihre Vertreter streiten, welche Methode in unseren Tagen vorzuziehen sei. Das israelische Oberrabbinat befürwortet ein Verfahren, das "Heter Mechira" (= Verkaufserlaubnis) genannt wird. Das Land wird für die Zeit der Schmitta an einen Nichtjuden formal verkauft; diese Prozedur macht es möglich, dass bestimmte Landarbeiten durchgeführt werden dürfen. Produkte, die auf den verkauften Feldern geerntet wurden, gelten nicht als Schmitta-Nahrungsmittel, die eine gewisse Heiligkeit ( hebr.: keduschat schewiit) aufweisen.

Wer jedoch Produkte mit keduschat schewiit geniessen möchte und bereit ist, bestimmte Einschränkungen auf sich zu nehmen, der kauft Obst und Gemüse im Rahmen eines Systems ein, das "Otzar Bet Din" (= Sammlung des Amtsgerichtes) genannt wird. Es handelt sich um eine ausgeklügelte Form der Vermarktung, die unter rabbinischer Aufsicht steht. Der jüdische Landwirt, der dieses System akzeptiert, wird im Schmitta-Jahr der Angestellte einer rabbinischen Organisation, die ihm genaue Anweisungen gibt, was im Feld zu tun und zu lassen ist, und ihn für seine Arbeit entlohnt. Die eingefahrene Ernte wird von der Organisation zum Selbstkostenpreis in ihren Läden vertrieben. Diese Form der Schabbatjahr-Praxis ist mit viel Mühe verbunden – aber alle Beteiligten sind davon überzeugt, dass sie sich der idealen Schmitta-Ausübung annähern.

3. "Mein ist das Silber"

Wenden wir uns jetzt dem zweiten Bereich der Schmitta, dem oben erwähnten Schuldenerlass zu. Im Buch Deuteronomium steht: "Am Schlusse von sieben Jahren halte Erlass. Und dies ist die Bewandtnis des Erlasses: Es erlasse jeglicher Schuldherr sein Darlehn,das er seinem Nächsten geliehen; er soll nicht drängen seinen Nächsten und seinen Bruder; denn ein Erlass dem Ewigen ist verkündet" (Kap. 15,1 u. 2). Von jüdischen Gläubigern wird also verlangt, dass sie bereits fällig gewordene Darlehen nach dem Stichtag (Ende des Schabbatjahres) nicht mehr einfordern. Der Verzicht auf die Rückzahlung um Gottes willen ist eine klare Bekenntnistat: der Ewige ist der Eigentümer unseres Geldes! Der Prophet Haggai verkündete: "Mein ist das Silber und mein das Gold, ist der Spruch des Ewigen der Heerscharen" (Kap. 2,8). In den Psalmen sagt König David: "Gottes ist die Erde und was sie füllt, das Erdenrund und seine Bewohner" (Kap. 24,1).

In der Regel gibt niemand gerne ein Darlehen, wenn der Verdacht besteht, der Schuldner werde das Geld nicht zurückbezahlen. Daher warnt die Tora ausdrücklich: "Hüte dich, dass nicht in deinem Sinne sei ein niederträchtiges Wort zu sprechen: Herankommt das siebente Jahr, das Jahr des Erlasses; und es wird dein Auge bös sein gegen deinen dürftigen Bruder, und du wirst ihm nicht geben, und er wird rufen über dich zum Ewigen, und es wird an dir eine Sünde sein. Geben sollst du ihm, und lass nicht leid sein in deinem Herzen, indem du ihm gibst; denn um dieser Sache willen wird dich segnen der Ewige, dein Gott, in all deinem Werk und in allem Geschäfte deiner Hand" (Deuteronomium Kap.15, 9 und 10).

Doch weder die biblische Warnung noch das Versprechen eines himmlischen Segens haben die Menschen  daran gehindert, das  Verfallsdatum zu beachten und keine unsicheren Darlehen zu gewähren. Deshalb wurde schon vor fast 2 000 Jahren eine noch heute praktizierte Umgehung des Gesetzes eingeführt, die als "Prusbol" bekannt ist. Wie sieht dieses bereits in der Mischna erwähnte Verfahren aus? Vor Ablauf der Frist kann sich ein Gläubiger durch eine gerichtliche Urkunde gegen den Verfall der Schuld absichern. Die Institution des Prusbols verhilft Bedürftigen zu einem Darlehen, aber zugleich verhindert sie den Schuldenerlass, den die Tora gefordert hat.

In unserer Zeit ist, wie bereits gesagt, Schmitta nur ein rabbinisches Gesetz. Um dieses rabbinische Gebot einzuhalten und nicht zu umgehen, geben manche Juden absichtlich ein Darlehen, dessen Einforderung von ihrem Prusbol nicht gedeckt ist (oder sie verzichten sogar auf das Schreiben einer solchen Urkunde).

4. Zeitgenössische Vorschläge

Erwähnenswert ist, dass im gegenwärtigen Schabbat-Jahr 5775 sehr viel über die sozialen Aspekte der Schmitta nachgedacht und geschrieben worden ist. Einige Sozialphilosophen schlagen die eine oder die andere Form eines realen Schuldenerlasses für Verarmte vor. Andere Leute haben den Verzicht, der von jüdischen Bauern im Lande Israel verlangt wird, auf andere Berufe übertragen; sie schlagen vor, dass Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer und Handwerker in bestimmten Fällen auf einen Teil ihres Honorars verzichten sollten. Das ist ohne Zweifel eine menschenfreundliche Idee; ihre Realisierung ist wünschenswert, und übrigens nicht nur im Schmitta-Jahr.

Niemand sollte aber den gegenwärtigen Diskurs missverstehen: Es handelt sich lediglich um fromme Empfehlungen, keineswegs um einklagbare Rechte. Sich vom Geist der Schmitta in der genannten Weise inspirieren zu lassen, ist gewiss nicht jedermanns Sache. Zumindest können alle, die sich für Fragen der jüdischen Weltanschauung interessieren, an den originellen Vorschlägen erkennen, zu welchen hehren Überlegungen die Schmitta-Gebote der Tora anregen.

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