Jüdische Moral

»Wer ein Menschenleben rettet …« - Die Tora lehrt anhand vieler Beispiele, dass wir jedes Leben schätzen sollen.

4 Min.

Rabbiner Elias Dray

gepostet auf 17.03.21

»Wer ein Menschenleben rettet …« – Die Tora lehrt anhand vieler Beispiele, dass wir jedes Leben schätzen sollen
 

Es ist wohl eine natürliche Reaktion: Was in unserem Umkreis passiert, interessiert uns, und wir setzen uns gründlich damit auseinander.

 

Aber dürfen wir unsere Augen vor dem verschließen, was in der Ferne geschieht? Warum berichteten deutsche Medien nicht oder nur am Rande darüber, als Anfang des Jahres ein Terrorist in Israel eine sechsfache Mutter in ihrem Haus ermordete? Was, wenn dies in Europa geschehen wäre? Oder warum wird so wenig darüber berichtet, dass in Nigeria jeden Tag Mädchen von der Terrormiliz Boko Haram verschleppt werden?

 

Können wir uns von diesen Problemen abkapseln? Können wir sagen, das geht uns nichts an, es geschieht nicht vor unserer Haustür? Aus meiner Sicht müssen wir auch über entfernte Krisenherde ausführlicher berichten. Wir müssen zum einen wissen, dass Konflikte, die uns im Moment weit entfernt erscheinen, schnell zu uns herüberschwappen können. Und zum anderen sollten wir wissen, dass wir eine moralische Verpflichtung haben, Gewalt überall in der Welt zu verurteilen und zu bekämpfen. Denn jedes Menschenleben ist bedeutend.

 

 

PRINZIP

 

Wie steht das Judentum zu dieser Frage? Im Talmud (Joma 82b) wird erzählt, wie ein Mann zu Rava kam und erzählte: »Der babylonische Herrscher meiner Stadt kam zu mir und sagte: ›Entweder bringst du die folgende Person um, oder ich werde dich töten.‹ Rava, der große Gelehrte, antwortete ihm: ›Du musst dich töten lassen und darfst den anderen nicht umbringen. Denn das Prinzip lautet: Wer sagt dir, dass dein Blut röter ist als seines‹.«

 

Wer sagt also, dass dein Leben wichtiger ist als ein anderes? Wir können nie wissen, welches Leben wichtiger ist. Wir kennen nicht alle Taten des anderen Menschen. Vielleicht hat er insgeheim viel Gutes getan. Wir können nicht der Richter sein und darüber urteilen, welches Leben mehr Wert ist als ein anderes.

 

Ich denke, wir müssen Leben an sich mehr schätzen. Das Judentum schätzt das Gut Leben wie wohl keine andere Religion. Hier einige Beispiele: Wenn ein Stier eine Person mit seinen Hörnern tödlich verletzt, muss dieser Fall vor einem Beit Din von 23 Richtern entschieden werden. Wieso 23 Richter? Bei einer Scheidung bedarf es nur dreier Richter.

 

Doch für jeden Gerichtsfall, in dem es um Tod durch Fremdeinwirkung geht, braucht man 23 Richter. Die Tora schreibt vor: Wenn es um den Verlust eines Lebens geht, auch wenn der Totschläger in diesem Fall ein Stier war, muss man 23 Richter einsetzen. Jedes Leben hat eine enorm große Bedeutung, und jeder soll sich das in einer großen Gerichtsverhandlung zu Gemüte führen.

 

 

ZUFLUCHT

 

In unserem Wochenabschnitt geht es um jemanden, der unbeabsichtigt einen Menschen getötet hat. Er kann in eine der sechs Zufluchtsstädte der Leviim fliehen, um sich vor der Rache der Verwandten des Opfers zu schützen. In diese Zufluchtsstädte kommen nur Leviim und Personen, die aus Versehen jemanden getötet haben. Sie müssen solange dort bleiben, bis der amtierende Hohepriester stirbt.

 

Warum verlangt die Tora diese Art der Resozialisierung? Sie will, dass die Personen mit Menschen zusammenkommen, die sich ständig mit der Tora beschäftigen. Denn die Tora lehrt uns anhand vieler Beispiele, wie sehr wir jedes Leben auf dieser Welt schätzen sollen.

 

Aber wie war es den Leviim möglich, sich vor allem auf das Torastudium zu konzentrieren? Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder Jude zehn Prozent seines landwirtschaftlichen Ertrags an einen Leviten geben musste. Mit dieser finanziellen Unterstützung konnten sich die Leviim voll auf das Studium und den Unterricht der Tora konzentrieren.

 

Wenn jemand seinen Nächsten unbeabsichtigt getötet hat, dann wollen wir ihn nicht in ein Gefängnis stecken. Denn dort lernt er womöglich von anderen Häftlingen, noch schwerere Delikte zu begehen. Nein, er soll in einer Stadt leben, in der es nur Schriftgelehrte gibt, und von ihnen lernen, wie sehr man das Gut Leben schätzen soll.

 

 

FAHRLÄSSIGKEIT

 

Wir können uns in diesem Zusammenhang noch eine weitere Frage stellen: Warum musste derjenige, der aus Fahrlässigkeit jemanden ums Leben gebracht hatte, bis zum Tod des amtierenden Kohen Hagadol (Hohepriesters) in einer der Zufluchtsstädte der Leviten bleiben? Inwiefern besteht eine Verbindung zwischen dem Hohepriester und dem, der aus Versehen getötet hat?

 

Der Talmud sagt uns: Wenn der Hohepriester mit größerer Konzentration gebetet hätte, wäre es nicht zu diesem Unglück gekommen. Er wird also indirekt zur Verantwortung gezogen. Jetzt gab es eine Person, die hoffte, dass er früh sterben würde, damit die Person selbst die Zufluchtsstätte verlassen kann. Deshalb entstand eine Halacha, laut der die Mutter des Hohepriesters den Menschen im Exil Essen und Kleidung zur Verfügung stellen soll, damit sie nicht für den Tod ihres Sohnes beten.

 

 

HILFE

 

Doch nicht nur Totschlag ist ein großes Vergehen im Judentum, sondern auch unterlassene Hilfeleistung. So sagt der Talmud (Sanhedrin 73a): »Woher wissen wir, dass, wenn jemand seinen Nächsten in einem Fluss ertrinken sieht, wie ein wildes Tier ihn wegschleppt oder wie Räuber ihn überfallen, er dazu verpflichtet ist, den anderen zu retten? Weil die Tora sagt: ›Du sollst nicht neben dem Blut deines Nächsten stehen‹« (3. Buch Mose 19,16).

 

Nicht in jedem Fall können wir selbst helfen. Aber wir sind verpflichtet, jemanden zu rufen, der helfen kann. Mögen uns die angeführten Beispiele aus der Tora inspirieren, den großen Stellenwert des Gutes Leben in noch größerem Maße schätzen zu lernen.

 

Und mögen wir die Kraft haben, dieses wichtige Lebensprinzip mit möglichst vielen Menschen zu teilen. Wie uns der Talmud mit diesem bekannten und wichtigen Zitat lehrt: »Wer ein Menschenleben rettet, dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten. Und wer ein Menschenleben zu Unrecht auslöscht, dem wird es angerechnet, als hätte er die ganze Welt zerstört.«

 

 

Der Rabbiner ist Mitglied in der ORD. Der Artikel ist aus: Jüdische Allgemeine Wochenzeitung.

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