Lea

Jeder gute junge Mann, hört sich alle meine Vorzüge an, doch sobald er den Satz vernimmt: „Sie ist geschieden“ - verfinstern sich seine Gesichtszüge ...

4 Min.

Rabbiner Schlomo Aviner

gepostet auf 05.04.21

Ich habe einen Namen. Oder, genauer gesagt, ich hatte einen Namen. Als kleines Mädchen war mein Name Lea. Auch als heranwachsendes Mädchen war das mein Name: Lea. Ich heiratete, und mein Mann nannte mich in Liebe Lea. Dann hasste er mich, aber nannte mich immer noch Lea. Nach langem Kampf, und mit der Unterstützung aller Rabbiner, erreichte ich die Scheidung, war noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen, aber mein Name lautete immer noch: Lea. Mit 23 Jahren ließ ich mich scheiden, aber vor lauter Aufreibung fühlte ich mich wie 30. Als ich meinen Get (Scheidungsbrief) beim Rabbinatsgericht in die Hand bekam, strahlte mein Gesicht vor Glück und ich fühlte mich wie 25. Da sagte ich mir: „Lea, du hast einen schweren Abschnitt hinter dir, aber du bist noch jung, deine Welt liegt noch vor dir, mit Gottes Hilfe wirst du einen netten Bräutigam finden, eine gute jüdische Familie gründen, und 'größer wird sein die Würde des zweiten Hauses als die des ersten'. Masal tov, Lea!“.

Doch das entpuppte sich als ein großer Irrtum. Ich geriet in einen noch fürchterlicheren finsteren Abgrund als die Periode meiner schweren Ehe. Und warum? Damals litt ich zwar, doch ich hatte noch Hoffnung auf ein besseres Morgen. Doch nun scheint mir der Horizont verschlossen.

Sie wollen sicher den Grund dafür wissen. Die Antwort lautet ganz einfach: Ich habe keinen Namen. Als Kind las ich einmal die Geschichte von einem armen Menschen, der seinen Schatten verloren hatte. Und ich habe meinen Namen verloren. Ich bin nicht mehr Lea, ich bin nicht mehr von Beruf Heilpraktikerin, ich bin nicht mehr die Tochter meiner Eltern, ich bin nicht mehr Absolventin der Hochschule für religiöse Mädchen, vielmehr ist meine ganze Persönlichkeit in einem furchtbaren schwarzen Loch verschwunden, das alles verschlingt: Ich bin eine Geschiedene.

Jeder gute und anständige junge Mann, den man mir zwecks Ehe vorschlägt, hört sich mit Anerkennung alle meine Vorzüge an, doch sobald er den Satz vernimmt: „Sie ist geschieden“ – verfinstern sich seine Gesichtszüge, und kühl beendet er das Gespräch. Diese furchtbare Guillotine kennt kein Erbarmen.

Rabbiner rieten mir: Ganz einfach – erzähl nichts davon. D.h., erzähle es nicht sofort, sondern erst, wenn schon eine emotionelle Verbindung entstanden ist. Und so halte ich es auch. Doch nun sehe ich mich mit einem neuen Ablauf konfrontiert. Alles läuft wie geschmiert, es "knistert", man versteht sich, es entsteht eine Verbindung. Und so, nach drei oder vier Begegnungen, fasse ich Mut und ganz vorsichtig, mit zitternder Stimme lasse ich einfließen: Ich bin geschieden. Da verdunkelt sich der Himmel, und ich ergänze: Frage alle Rabbiner, sie werden dir alles erklären: Ich habe keine Hörner, ich trage keine Schuld an der Scheidung, ich war eine vorbildliche Ehefrau, mein Ex-Ehemann war nicht ganz normal, ich habe mir die Beine ausgerissen, um die Ehe zu retten, habe auf alles verzichtet, auf alles; doch das Ende war unvermeidbar, denn mein Leben wurde zur Hölle, bis ich mir sagte: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, und er könne alle Rabbiner auf der Welt fragen. Der junge Mann hört uninteressiert zu, demonstrativ gelangweilt, und sagt zum Schluss mit gekünstelter Höflichkeit: Ich werde es mir überlegen.

Und er überlegt es sich – nach einigen Tagen erhalte ich eine lakonische Kurzmitteilung: Danke, ich bin nicht interessiert. Ich kämpfe mit den Tränen und mein Herz verkrampft. Lea, Lea, sage ich mir, denn immerhin vor mir selbst bin ich immer noch Lea – du bist doch ein Dummerchen, du bist doch naiv, du bist doch einfältig, du hast vergessen, dass du geschieden bist. Schreib dir das gründlich hinter die Ohren: Du bist geschieden. Du hast geglaubt, jener junge Mann, in der Tora bewandert, liebt das Volk Israel und das Land Israel, voller Himmelsfurcht und guter Eigenschaften, würde dich mögen. Wach auf, Lea! Er ist zwar voller jüdischer Nächstenliebe – aber bis hier und nicht weiter! Verstehe doch, Lea, du lässt dich von Rabbinern beraten, aber auch er berät sich mit Rabbinern, und die sagen ihm: Warum in ein Krankenbett steigen? Ein Krankenbett! Ich bin kein Krankenbett, ich bin so gesund wie die Mittagssonne! Das stimmt, aber in unserer Lügenwelt, teure Lea, giltst du als zweitklassig. Hast du gehört? Zweitklassig! So ist das! Damit ist dein Schicksal besiegelt. Ich bin geschieden, ich bin zweitklassig. So kommen zu mir gute Seelen mit einem breiten Lächeln und hinkenden Angeboten: Das eine Bein zu kurz, und der eine Arm zu lang, und so weiter. Übrigens würde es mir nichts ausmachen, so einen Jungen zu heiraten, er kann ja trotzdem ein goldenes Herz haben; ich nehme es den Leuten aber übel, dass sie ihn mir nur deshalb antragen, weil ich geschieden bin. Und wahrscheinlich ist auch er beleidigt, dass man ihm eine Geschiedene anbietet, nur weil ein Bein kürzer oder ein Arm länger ist. Doch das ist natürlich kein Trost für mich.

Glaubt aber ja nicht, dass ich aufgegeben habe, dass ich verzweifelt bin, dass ich gebrochen bin und die Sache abgeschrieben habe. Auf keinen Fall! Ich verzichte nicht auf meinen Namen! Für immer bleibe ich Lea. Mit meinem Charakter, mit meinen positiven Eigenschaften, die mich drängen, eine gute Partnerin und Mutter zu sein. Die gleiche mit guten Eigenschaften gewappnete Lea.

Ich habe wegen der Scheidung nicht an Wert verloren, sondern hinzugewonnen. Die Krisen erhoben mich, machten mich feinfühliger, stärkten mich. Aus dem Schmerz blühte ich auf. Ich bin fröhlicher als je zuvor, ich nehme an Gesangs- und Tanzgruppen teil, besuche Kurse und leiste freiwillige Hilfsarbeiten.

Ich warte auf einen ebenbürtigen Mann, warte und suche. Nichts hat sich geändert. Es ist nur schwerer geworden. Ich weiß, dass viele junge Männer vor dem Wort "geschieden" zurückschrecken, sollen sie gesund sein, ich brauche sie nicht. Und sowieso kann ich ja nicht viele Männer heiraten, ich brauche nur einen einzigen.

Einen, der jemanden nach seinem wahren Wert beurteilt und nicht nach Vorurteilen, einer, offen und wahrhaftig, klug und froh. Ich werde ihn finden.

Masal tov, Lea!
 
Der Autor ist Oberrabbiner von Bet El und Rosch Jeschiwa von "Ateret Kohanim/Jeruschalajim" in der Jerusalemer Altstadt, sowie Mitglied bei KimiZion.
 

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