Ein liebendes Elternherz

Bei der Kindererziehung geht es vor allem darum, klare Grenzen zu setzen und mit Konsequenzen statt mit Bestrafung darauf zu reagieren.

5 Min.

Rabbiner David Kraus

gepostet auf 16.03.21

Bei der Kindererziehung geht es vor allem darum, klare Grenzen zu setzen und mit Konsequenzen statt mit Bestrafung darauf zu reagieren. Die Tora benutzt bewusst rhetorische Visualisierungen, welche natürlich nicht dazu aufrufen, sein Kind mit Gewalt zu erziehen. Im Gegenteil, zum Schutz und für das gesunde Heranwachsen eines Kindes zeigt uns die Tora im tiefen Sinn eine Art der konsequenten Erziehung, die jeder Erzieher kennen muss. Fakt ist, ein Kind ohne klare Grenzen und Prioritäten zu erziehen, das gleicht real einer brutalen Strafe durch die Rute.

 

Die Tora fordert Grenzen zu setzen und Prioritäten wegweisend zu erkennen. Jedes Kind braucht Grenzen und Prioritäten. Eltern, die ihr Kind frei gewähren lassen, denken vielleicht, ihr Kind auf diese Weise voller grenzenloser Liebe zu erziehen, aber das wird fatale Folgen haben, denn eine Liebe ohne Grenzen ist keine Liebe! Und auch das fordert die Tora: Liebe bedingungslos – nicht grenzenlos! Setze deinem Kind deutliche Grenzen und zeige deinem Kind klare Prioritäten, der Rahmen dazu ist natürlich die Tora und so lernt das Kind dann auch, dass, wenn man Grenzen übergeht, es sich dadurch nur selbst schadet. Und im Umkehrschluss, wenn ein Kind es schafft, seinen Grenzbereich, also sein Aktionsfeld, geschickt einzuteilen – auch mit der Schaffung einer großen Komfortzone –, so kann es ein tolles Leben haben.

 

Das gesamte Kapitel 13 in Mischley ist voll mit wertvollen Hinweisen zur fördernden Grenzsetzung. Die Tora plädiert für ein Erziehen ohne Gewalt! Eltern können ihre Kinder auch disziplinieren, ohne körperliche Gewalt anzuwenden. Kinder sollten ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben und belohnt werden, wenn sie das Richtige tun – nicht bestraft werden, wenn sie etwas Falsches tun.

 

Die Halacha verbietet es, ein Kind zu schlagen! Dieses Verbot offenbart eindeutig den Kern jener Facette der menschlichen Psyche, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle wirkt. Es geht hier nämlich nicht nur um das „logische“ Verhindern von Gewalt, sondern vor allem auch um die gesunde Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls.

 

Der Talmud in Mo'ed Katan 17a berichtet z.B., wie die Magd von Rabbi Yehuda HaNasi beobachtet hatte, wie ein Vater seinen großen Sohn schlägt.

Sie war empört und sagte: „Verbannt sei dieser Mann, weil er eine Sünde getan hat, er hat das Gebot: Lifne Iver al Tavi Michschol – Einem Blinden stelle kein Hindernis vor die Füße, missachtet“.

 

Wir lernen hier also, dass es sogar für ungebildete Menschen, wie die Magd, die nichts gelernt haben und Analphabeten sind, selbstverständlich ist, dass man sein Kind nicht schlagen darf.

 

Aber es geht noch einen Schritt weiter. Es ist klar, dass man keine Gewalt anwenden darf, darüber sprechen wir hier nicht, weil das ja selbstverständlich ist, nein, vielmehr will die Tora uns darauf hinweisen, dass wir füreinander verantwortlich sind. Wenn man zuschlägt, hat man gesündigt, aber nicht nur wegen der ausführenden Gewalt, sondern auch, weil man sein Kind durch die erniedrigenden Schläge daran hindert, das Gebot der Elternehre zu erfüllen. Es versteht sich von selbst, dass ein Kind, welches von seinen Eltern geschlagen wird, seine Eltern nicht ordnungsgemäß ehren kann. Wenn ein Kind also als Resultat der elterlichen Gewalt seine Eltern nicht ehrt, ist die Sünde der Gebotsmissachtung der Elternehre den schlagenden Eltern zuzuschreiben. So weitreichend ist dieses Gewaltverbot.

 

Im Shulchan Aruch steht das eindeutige Verbot, dass Eltern ihre großen Kinder nicht schlagen dürfen, damit die Kinder nicht zurückschlagen oder sich gegen die Eltern stellen. Nun die halachische Debatte nach der Definierung von „groß“: Wer gilt als groß?

 

Der Rama geht auf dieses halachische Verbot ein und sagt, dass mit „großer Sohn“ ein 21 Jähriger gemeint ist. Der Ritba widerspricht dieser Altersgrenze aber mit dem Argument, dass die heutige Zeit nicht mit der damaligen zu vergleichen ist, es also keine Altersgrenze gibt, die erlaubt, ein Kind mit Schlägen zu erziehen. Groß ist also ein Kind, das versteht, dass es geschlagen wird. Was aber nicht bedeutet, dass man Säuglinge schlagen darf. Im Gegenteil, dem Verbot, Kinder zu schlagen, geht noch ein Verbot hervor – das Verbot, einem Menschen Schaden zuzufügen.

Heute ist aus der Hirnforschung bekannt, dass die Entwicklung des Gehirns stark beeinträchtigt und geschädigt werden kann, wenn die Erfahrungen in der frühen Kindheit von Angst und Stress geprägt sind. Dies hat langfristige Auswirkungen auf spezifische Funktionen des Gehirns, z.B. wie Affekte reguliert und Impulse kontrolliert werden können, wie später mit neuen und schwierigen Situationen umgegangen wird, wie in der Schule gelernt werden kann. So wissen wir heute mit Sicherheit, dass durch entsprechende Erfahrungen in den ersten Lebensjahren Steine auf den Weg der Lebensgeschichte gelegt werden können. Kinder, die geschlagen werden, erstarren in diesem Moment. Daraus entwickeln sich Gefühle wie zum Beispiel Angst, Trauer und Hilflosigkeit. Diese Gefühle können im schlimmsten Fall ein ganzes Leben prägen.

 

Der Wunsch aller Mütter und Väter muss also sein, dass die Chance genutzt wird, durch eine liebevolle, von Respekt und Aufmerksamkeit für die Belange des Kindes getragene Begleitung die Grundlage für eine gelingende Entwicklung zu schaffen. Genau das ergeht aus Pele Joez‘ Worten, der schrieb, dass Gewalt als erzieherische Maßnahme verboten ist – nicht nur die körperliche, was so logisch ist, dass er dies nicht einmal erwähnt hatte. Der Pele Joez sprach aber ausführlich über das Verbot, grob und streng mit seinen Kindern zu sprechen. Mit einem Kind sollte man nur sanft und liebevoll kommunizieren.

 

Der überall anerkannte Rabbiner Shlomo Wölbe hat für unser Zeitalter auch ein absolutes Gewaltverbot ausgesprochen. Es ist aber auch wichtig, die Eltern zu verstehen. Während in Entwicklungs- und Schwellenländern Eltern häufig Gewalt als legitimes Erziehungsmittel sehen und es deshalb gezielt einsetzen, schlagen Mütter und Väter in reichen Industrienationen wie Deutschland, Israel etc. häufig aus Überforderung zu. Es geschieht hierzulande fast ausschließlich aus Hilflosigkeit, Überforderung und Mangel an Alternativen. Und eben genau hier kommt die Tora zur Hilfe und erklärt mit wertvollen Tipps und hervorragenden visualisierten Tools, wie man sich davor bewahren kann, sein Kind zu schlagen!

 

Nun werden die einen oder anderen vielleicht den Einwand haben, dass es aber in der Tora sehr wohl Verse gibt, die körperliche Strafe empfiehlt, siehe Mischley 13,24: „Wer seine Rute spart, hasst seinen Sohn, aber wer ihn lieb hat, sucht ihn früh heim mit Züchtigung.“

Auch im Talmud finden wir einen Spruch von Rav: „Wenn ihr das Kind schlagt, dann nur mit Schnürsenkel.“

Kommentator Rashi dazu: „Das bedeutet ‚sehr leicht‘, um keinen Schaden zuzufügen.“ Also scheinen Schläge doch okay zu sein.

 

Allgemein sollte man an dieser Stelle klarstellen, dass die Tora das Buch des Lebens ist und deshalb finden sich darin sehr viele Aussagen, die ein Laie sehr oft als sehr starken Widerspruch werten kann. Gelehrte verstehen es, die Tora im Ganzen zu sehen, also für jede Lebenslage einen Rat zu finden.

 

Ein Kind zu erziehen, das ist alles andere als leicht. Viele Eltern fragen sich, wie sie sich verhalten sollen, wenn ihr Sprössling zum fünften Mal das Essen als Wurfgeschoss verwendet oder ohne nach rechts und links zu schauen über die Straße läuft. Schließlich ist es ihre Aufgabe, dem Nachwuchs Werte und Manieren beizubringen und sie vor Gefahren zu schützen. Liebe ohne Strenge funktioniert daher nicht. Eben das lehrt die Tora, wie wir mit den Versen gerade belegt haben.

Die Tora will uns mit diesen Aussagen aber auch darauf hinweisen, dass Gewalt an sich auch erlaubt sein kann, wenn man dadurch das Kind vor einer Gefahr schützt. Etwa wenn man das Kind vom Zündeln abhalten will, indem man ihm die Streichhölzer entreißt oder wenn man es zurück auf den Gehweg zieht, um zu vermeiden, dass es auf der Straße von einem Auto angefahren wird. Wird das Kind danach für sein Handeln aber geschlagen oder gedemütigt, z.B. durch Niederbrüllen vor sämtlichen Mitschülern oder Passanten, ist das Verhalten nicht mehr vom Grundrecht der Eltern auf Pflege und Erziehung ihres Kindes umfasst. Strenge bedeutet also nicht, das Kind zu demütigen oder zu schlagen, und das ist heute eindeutig.

 

Bleibt zu diskutieren, ob eine leichte Ohrfeige, ein Klaps oder der Schlag mit den Schnürsenkeln okay sei. Rabbi Nachman aus Breslev sagte dazu: „Man sollte mal eine Ohrfeige geben.“ Und in Breslev sagt man weiter: „Diese Ohrfeige verschieben wir aber gerne auf ein andermal.“

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