Chassidische Geschichten

Zum Vers "In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage" (Lev. 23,42) erklärten die talmudischen Weisen: …

4 Min.

Rabbiner Lior Engelmann

gepostet auf 06.04.21

Ende gut, alles gut?

Manchmal habe ich das Gefühl, die chassidischen Geschichten fangen am falschen Ende an; statt mit dem Anfang zu beginnen, fangen sie aus irgendeinem kühlen Grunde mit dem Ende an. Die Persönlichkeit des Wunderrabbis oder einer anderen gerechten Person wird so dargestellt, wie sie sich am Ende gibt, voller Himmelsfurcht, in grenzenloser Verbundenheit mit der Tora, und gigantische Frömmigkeit. Wer so eine Geschichte liest kann leicht zu dem falschen Eindruck gelangen, dass dieser Gerechte so geboren wurde, in dieser erhabenen Vollkommenheit… Niemals hegt er Zweifel, es plagen ihn keine Gewissensfragen, er ist frei von Trieben und rein von Sünden. Er hat so etwas Vollkommenes und bezauberndes an sich, dass er schon fast nicht mehr menschlich wirkt. 

Solche Geschichten lassen die Hauptsache aus, nämlich den Mittelteil, den Weg. Der Leser gerät schnurstracks in eine reine und klare Welt, die ihn nur wenig beeindruckt. Sicher wird ihm diese vollkommene Welt jener höchsten Heiligen bewusst, und er kann auf diese Weise leichter das Vertrauen in die Weisen erlangen (obwohl deren Welt häufig etwas oberflächlich geschildert wird), und trotzdem besteht ein Problem, denn dieser wunderbaren Größe fehlt jeder Berührungspunkt mit unserer Welt. Es fehlt das Bindeglied, die Beschreibung des Weges. Die wichtigsten Fragen bleiben unbeantwortet: Wie gelangte dieser Gerechte zu solch spiritueller Größe? Wie bezwang er die Schwierigkeiten auf dem Wege dorthin? Wie kämpfte er für sein Ziel? Erlitt er Rückschläge? Und wenn ja, wie rappelte er sich wieder auf? Die Vorstellung, es gebe einige Glückliche, denen auf wunderbare Weise all diese erhabenen Eigenschaften in den Schoß fielen, nützt den vielen (allen?) von uns nicht bei den Auseinandersetzungen, mit denen wir fertigwerden müssen. 
 
Es verwundert denn auch gar nicht, wenn die Tora die ganze Geschichte in allen Einzelheiten erzählt, und wo sie etwas sparsamer mit den Details umgeht, ergänzen die talmudischen Weisen. Die Versuchung Awrahams mit der Bindung Jizchaks z.B. wird ausführlich in der Tora geschildert, und die Midraschim bereichern die Geschichte noch mit den problematischen Begebenheiten auf dem Wege, als der Satan, als Greis verkleidet, mit Awraham und Jizchak eine Debatte beginnt: "Den Sohn, den man dir im Alter von 100 Jahren gab, gehst du schlachten?! … Morgen wird G~tt dir Blutvergießen vorhalten, weil du das Blut deines Sohnes vergossest!" (Midrasch Tanchuma). Die Versuchung Josefs mit Frau Potiphar wird auch im Midrasch eingehender geschildert, wobei Josef schon auf dem Weg zur Sünde war, und nur durch höchste Selbstbeherrschung, allerlei Tricks und stärkste Willenskraft konnte er das Steuer herumwerfen. In der Persönlichkeit von David erfährt dieses Prinzip ganz außerordentlichen Ausdruck. Der Charakter Davids, König von Israel, ist keineswegs perfekt. Vielmehr spiegelt sich darin ein Bild der Vervollkommnung, ein Bild von Weg und Bewegung, ein Bild von ständiger Auseinandersetzung, die im Falle der Sünde die Möglichkeit der Umkehr und am Ende Hoffnung bietet. Das ganze Buch der Psalmen ist ein einziges Ausschütten der Seele eines gewaltigen Menschen, der voranschreitet, strauchelt und kämpft.
 
Der Unterschied zwischen uns und diesen Weltgewaltigen liegt nicht darin, dass wir mit Trieben behaftet sind, wohingegen der böse Trieb einen Bogen um jene höchsten Heiligen macht. Wenn dem so wäre, könnte man sagen, sie hätten keinen wirklichen Vorzug uns gegenüber, denn ohne bösen Trieb würden auch wir sicher zu Größe gelangen… Der Unterschied besteht vielmehr in der Entscheidung dieser Größen zu kämpfen, zur Auseinandersetzung und auf Dauer diesen Kampf für sich zu entscheiden. Unsere Vorväter wurden "Starke" genannt, weil sie hartnäckig waren – so erklärte es Rabbi Zadok Hakohen aus Lublin. Trotz der Tatsache, "wer größer ist als sein Nächster, dessen Trieb ist auch größer" – der wirklich Große wird mit seinem Trieb fertig. Manchmal versuchen Leute, die Schwächen unserer Vorväter mit dem Ziel der Rechtfertigung ihrer eigenen Schwächen zu beleuchten, wir aber beleuchten ihren Weg und ihre Auseinandersetzungen, um Inspiration und Belehrung zu erhalten, unseren eigenen Weg am besten zu gestalten. 
 
Das Laubhüttenfest (Sukkot), das wir nun in Freude begehen, ist eine Geschichte vom Wege. Wir feiern den 15. Tischri nicht wegen eines bestimmten Ereignisses, das an diesem Datum stattfand, sondern als Ausdruck einer langfristigen Entwicklung: "Damit es eure Geschlechter erfahren, dass ich in Hütten habe wohnen lassen die Kinder Israel, als ich sie herausgeführt aus dem Lande Ägypten" (Lev. 23,43). An Pessach feiern wir den Anfang, die Entlassung in die Freiheit, und an Schawu’ot den Höhepunkt, den Erhalt der Tora, doch an Sukkot feiern wir den Weg in seiner Gesamtheit. Auf den ersten Blick gibt es an Pessach und an Schawu’ot einen echten Grund zu feiern, da eine deutliche Verbesserung unserer Lage eintrat, nämlich physische Freiheit (Pessach) bzw. spirituelle Freiheit (Schawu’ot), an Sukkot jedoch gibt es keinen greifbaren Wendepunkt – und trotzdem erhielt dieses Fest den Beinamen "Zeit unserer Freude". Bei eingehender Betrachtung finden wir die Freude in der ganzen Entwicklung verborgen, auf dem Wege. Im Gegensatz zu vielen Leuten, die ihr Glück nur auf den Höhepunkten des Lebens finden, und deren Glück damit automatisch aus Bruchstücken besteht, erzieht uns die Tora dazu, unser Glück zu jeder Zeit zu finden, in einem Leben fortwährender Weiterentwicklung, in einem Leben des Weges.
 
Von Rabbiner Jomtov Cheschin habe ich einmal gehört, dass die Umzüge in der Synagoge die Festgebete symbolisieren, die endlosen Kreise, ohne Anfang und ohne Ende, eine andauernde, unaufhörliche Bewegung. An Sukkot wird über das Wasser gerichtet, und darum gießen wir Wasser in einer besonderen Festprozession auf den Tempelaltar, ein Symbol für den Wasserkreislauf von oben nach unten und wieder zurück, ein endloser Kreislauf, der auch in den Buchstaben für Wasser (majim) mem-jud-mem angedeutet ist. Auch der Brauch, die Sukka mit Papier- oder anderen Ketten zu schmücken, deutet auf die Wichtigkeit des Weges. Vielleicht genau aus diesem Grunde besteht das Gebot an Sukkot, unseren ganzen Lebensablauf in die Sukka zu verlagern, unter die Schwingen der göttlichen Präsenz. Dabei haben wir es nicht mit einem Höhepunkt der Heiligkeit zu tun, sondern mit einer anderen Betrachtungsweise unseres gesamten Lebensweges, einer Beziehung der Freude zum Wege.
 
An Sukkot ist es uns vergönnt, in unserer Laubhütte erlauchte Gäste zu beherbergen, die sogenannten Uschpisin, Awraham, Jizchak, Jakov, Josef, Moscheh, Aharon und David. Die Begegnung mit diesen historischen Gestalten am Laubhüttenfest sollte sich auf das Verständnis des Weges konzentrieren, den sie bewältigten, und durch den sie ihre hohe Stufe erlangten und den Charakter unserer Nation prägten. So eine Begegnung ist gut dazu angetan, auch uns den Weg zu ebnen.
 

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