Vorbild

Die Pädagogen haben erkannt, dass nicht die direkte Anweisung, sondern das persönliche Vorbild die beste Form der Einflussnahme ist ...

4 Min.

Joel Schwarz

gepostet auf 17.03.21

Nun wollen wir den Unterschied klären zwischen der Verpflichtung der Israeliten auf die 613 Gebote der Tora, deren Grundlage der Dekalog ist – die Zehn ist eine vollkommene Zahl, und wir zählen ja auch gewöhnlich im Zehnersystem – und der Verpflichtung der Nachkommen Noahs, die auf das Siebengebot gegründet ist – und die Sieben steht für die natürliche Ganzheit.
 
Der Unterschied zwischen beiden Verpflichtungen lässt sich durch folgendes Gleichnis erklären:
 
Wer irgendeine Zeichnung zu verfertigen hat, der kann dabei mehr oder weniger Anstrengung darauf verwenden, dem geforderten Bild zu entsprechen. Man kann mit wenigen groben Strichen das Hauptsächliche des Gegenstandes erfassen oder sich eben auch um alle Feinheiten und Details bemühen. Wer berufsmäßiger Künstler ist, der legt besondere Sorgfalt auf jede Einzelheit des Bildes, auf jeden Strich, auf jeden Schatten und Punkt. So ist es die Aufgabe der Menschheit, ihren Lebensinhalt auf die Regeln der Tora auszurichten. Demgegenüber müssen die Nachkommen Israels, die als priesterliches Volk der Menschheit als Beispiel dienen, so leben wie der Künstler, der seine Arbeit noch vollkommener tut und es mit jeder Einzelheit sehr genau nimmt. Wenn ein Nachkomme Noahs auch seinerseits so handeln will, darf er es zwar tun, aber es ist ihm nicht geboten.
 
Dies muss gesagt werden, damit wir hier nicht die Bereiche vermischen: Es ist den Juden verboten, Nichtjuden zum Konvertieren zu veranlassen; entsprechend haben die Nichtjuden die besondere Aufgabe der Juden anzuerkennen.
 
Einer der Nachkommen Noahs, der die besondere Aufgabe der Israeliten verstanden hat, war der französische Außenminister Bartholome Saint Hilaire (1805 – 1895). Er stellte sich der Frage, ob die Juden konvertieren sollen, wie folgt: „Ich will dir ganz schnell antworten: Nein! Gott bewahre, dass die Juden Christen würden! Wenn die Juden aufhörten zu sein, was sie entsprechend ihrem Glauben sind, so wäre das in meinen Augen das größte Unglück für das Menschengeschlecht. Kein Volk auf der Welt hat soviel Kraft bewiesen, für seinen Glauben zu leiden, wie das Volk Israel. Kein Volk hat einen so nachhaltigen religiösen Einfluss auf die Menschheit ausgeübt wie das Volk Israel. Seine Bibel stellt das größte Buch unter den heiligen Schriften der Völker dar und hat Israel zum „Volk des Namens“ gemacht. Der Tag, an dem die Juden zu Christen würden, wäre ein nicht wieder gutzumachender Unglückstag. Die Juden müssen für immer bleiben, was sie sind; sie müssen dem treu bleiben, wofür sie 3000 Jahre lang gelitten haben, und dessen Kraft heute so stark ist wie damals. Wenn die Juden nicht mehr wären, hätte das ganze Menschengeschlecht einen Lehrer und Leiter in Glaubensdingen verloren, der nicht seinesgleichen kennt. Besonders in unserer Zeit, in der der Gottesglaube unter Leuten, die sich als aufgeklärt und vernünftig verstehen, immer mehr schwindet, wäre ein Fehlen der Juden umso spürbarer. Das menschliche Gewissen braucht den lebendigen Protest des Volkes Israel.“ (Bartholome Saint Hilaire in seiner Antwort auf den Traktat „Werden die Juden ihren Glauben ändern?“)
 
Der französische Schriftsteller Ranouil sagte einmal, die Menschheit empfinge aus der alten Welt drei Lehrer: den Lehrer des Glaubens und der Moral – das sei der Jude; den Lehrer der Weisheit und der handwerklichen Kunstfertigkeit – das sei der Grieche und den Lehrer des Rechtes – das sei der Römer.
 
Die Betonung der Unterschiedenheit zwischen den Israeliten und den Noachiten meint nicht, dass sich Israel der Einflussnahme auf andere Völker enthalten solle, gerade im Gegenteil! Gerade durch die Abgrenzung und Unterscheidung wirkt das Volk Israel auf die ganze Menschheit ein. Möglicherweise hat das ganze seinen Sinn darin, dass das Volk Israel, insofern es nach der Tora und den Geboten lebt, in der Welt deutlich macht, wie ein Volk als ganzes zur geistigen Vollkommenheit gelangen kann. Das Bestehen des Volkes Israels in Vollkommenheit, d.h. wenn die 613 Gebote wahrhaftig und ganz gehalten werden, stellt ein Beispiel dar für eine vollkommene Gesellschaft, die von Heiligkeit und Reinheit geleitet wird. Es gibt keine höhere Heiligung des Gottesnamens als dies. Es haben sich schon viele gerühmt, dem einzelnen wie auch immer geistigen Reichtum zu bringen, aber es gibt bisher noch niemanden, der ein Gebot entworfen und auch gehalten hätte zum Aufbau einer Gesellschaftsordnung, die geistigen Reichtum für die Allgemeinheit bringen könnte, für die Bevölkerung insgesamt. Damit ist gerade das Bestehen des Volkes Israel als nationale und gesellschaftliche Größe eine Möglichkeit, auf die Völker der Welt einzuwirken, die Königsherrschaft Gottes anzuerkennen. Darum heißt es von der Zukunft, wenn die Erlösung kommen wird für das Volk Israel, wenn es in seinem Land wohnen und die Tora wahrhaftig gehalten wird: Es wird Weisung ergehen aus Zion für die ganze Menschheit (Jes. 2) – dies kann nicht in der Zeit des Exils geschehen, in der das Volk Israel zerstreut lebt unter den Völkern und von ihnen beeinflusst wird.
 
Die Pädagogen haben erkannt, dass nicht die direkte Anweisung, sondern das persönliche Vorbild die beste Form der Einflussnahme ist; wenn Israel seine Aufgabe erfüllt, wird dies ein hervorragendes persönliches Beispiel für die ganze Welt sein.
 
Rabbiner Samson Raphael Hirsch schreibt in „Neunzehn Briefe über das Judentum“:
 
„Dem Volk Israel ist es auferlegt, auf die Tora des HERRN achtzuhaben inmitten der Menschheit wie ein Priester inmitten seiner Volksgenossen, auf sie achtzuhaben als ein heiliges Volk und in dieser Heiligkeit zu stehen und sich nicht verwickeln zu lassen in die Machenschaften der Völker oder nach ihren Satzungen zu wandeln, sondern in seinem Leben die Heiligkeit des Menschen zu bewahren. Die Tora und die Erfüllung des Willens Gottes sind die Grundlage für das Leben des Volkes Israel, der Boden unter seinen Füßen und der Sinn seines Bestehens; darum hängt die Nationalität dieses Volkes nicht an wechselnden Faktoren und ist auch nicht von solchen bedingt. Dem Volk Israel ist es aufgegeben, seine Stellung einzunehmen unter den Völkern und als Volk all den übrigen Völkern zu zeigen, dass Gott der Herr über seine Welt ist allen zugute.“(Samson Raphael Hirsch, Neunzehn Briefe über Judentum, Frankfurt 1901, 3. Aufl., Brief 8)
 
Weiter heißt es in Hirschs Worten: „Und denken Sie sich einmal das Bild solches unter Völkern freiwohnenden, sein Ideal erstrebenden Israels! Jeder Israelit geachteter, weitwirkender Beispielspriester der Gerechtigkeit und Liebe; nicht Israels Religion – was ihm verboten ist – aber reines Menschtum unter den Völkern verbreitend! Welcher Hebel zum Fortschritt der Menschheitserziehung, welche Leuchte und Stab in des Mittelalters nächtigen Tagen, wenn Israels Sünde und der Völker Wahn dieses Bild des Exils nicht zurückgedrängt; wenn in Mitte einer nur Gewalt und Genuss und Besitz erstrebenden und vergötternden, nicht selten vom Wahn umdunkelten Menschheit still und offen Menschen gelebt hätten, die in Besitz und Genuss nur Mittel sahen, Gerechtigkeit und Liebe gegen alle Welt zu üben, deren Geist, von der Liebe, Wahrheit und Weisheit erfüllt, nur menschlich gerade, vernünftige Ansichten gehegt und in lebendigem Tatsymbol für sich und andere verewigt hätte!“ (Samson Raphael Hirsch, aaO., Brief 16)

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