Scham und Reue – Wajigasch

Endlich enthüllte Joseph, der mächtige Mann, seine wahre Identität. Wie reagierten seine Brüder auf diese Mitteilung? ...

2 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 05.04.21

Zum Wochenabschnitt Wajigasch (Bereschit 44,18 – 47,27)

Endlich enthüllte Joseph, der mächtige Mann, seine wahre Identität. Wie reagierten seine Brüder auf diese Mitteilung? In der Tora wird die dramatische Episode wie folgt beschrieben: „Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: Ich bin Joseph, lebt mein Vater noch? Aber seine Brüder konnten ihm nicht antworten, denn sie schraken zurück vor ihm“ (Bereschit 45,3). Die Reaktion der Brüder ist von den Kommentatoren unterschiedlich ausgelegt worden. Rabbiner J. H. Hertz meint: „Die Bestürzung machte sie taub, so dass sie ihren Augen und Ohren nicht trauten.“

Nach Rabbiner Bachja ben Ascher – in seinen Spuren geht Rabbiner M.L. Malbim – bewirkte die schockierende Mitteilung, dass sie sofort Angst vor Josephs Rache hatten. Ein Midrasch, den E. Kitov in „Sefer Haparschiot“ anführt, spitzt diesen Gedanken sogar noch zu: sie wollten der Rache von Joseph zuvorkommen und ihn töten!
 
Raschi deutet das Erschrecken der Brüder ganz anders: „Sie waren bestürzt vor Scham!“ Was bedeutet in unserem Kontext Scham (Buschah)? Was will uns Raschi über die Reaktion der Brüder sagen? In „Sefer Da’at Tora“ von Rabbiner J. Levovitz ist eine Antwort auf diese Fragen nachzulesen. Rabbiner Levovoitz erklärt, dass Scham sich bei einem Menschen dann einstellt, wenn er auf einmal sein Vergehen erkennt. Josephs Brüder schämten sich, als sie plötzlich erkennen mussten, dass ihre Auffassung vom Verkauf Josephs, den sie bislang für gerechtfertigt gehalten hatten, auf einem Irrtum beruhte. Nach der Mitteilung von Joseph war nicht mehr zu übersehen, dass ihr „Urteil“ verkehrt war: sie hatten Joseph Unrecht getan, und nun schämten sie sich ihrer Untat. Nach Raschi löste Josephs Mitteilung bei seinen Brüdern keine aggressiven Gedanken aus; vielmehr kam ein Teschuwaprozess in Gang. Die Scham führt zur Reue, ohne die es keine Teschuwa (Umkehr) geben kann.
 
In seiner Abhandlung über die Teschuwa, die im Sammelband „Lifrakim“ (Jerusalem 1967) abgedruckt ist, erläutert Rabbiner J.J. Weinberg, dass Reue (Charata) wesentlich mehr ist als das Bedauern einer Tat, die man nun einmal begangen hat. Es geht bei der Reue um ein Abstellen derjenigen Bedingungen, welche die Sünde überhaupt erst möglich gemacht haben. Wahre Reue bedeutet also nicht nur eine Aufarbeitung und Umwertung der Vergangenheit, sondern sie ist eine Bemühung um Änderung im Interesse der Zukunft.
 
Mit Recht hat der Psychologe E. Fromm in seinem Buch „Ihr werdet sein wie Gott“ (Reinbek 1980) festgestellt, dass in der jüdischen Auffassung von Sünde und Reue nur wenig von einem sadistischen Über-Ich oder einem masochistischen Ich zu finden ist. Allerdings ist Fromms Behauptung falsch, Maimonides erwähne Zerknirschung und Scham nicht als Bestandteile der Teschuwa. Nach Maimonides sieht das für die Teschuwa entscheidende Sündenbekenntnis wie folgt aus: „Dies und jenes habe ich getan, ich bereue es und schäme mich meiner Taten, ich will diese Sache niemals wiedertun“ (Hilchot Teschuwa, 1,1; siehe ebd. 7,8).
 
 

Im Talmud wird gelehrt: „Wer eine Sünde begangen hat und sich schämt, dem werden alle Sünden verziehen“ (Berachot 12b). Rabbiner E.E. Dessler hat auf die merkwürdige Relation aufmerksam gemacht: Jemand schämt sich wegen einer Sünde, und dann werden ihm alle Sünden verziehen! Die enorme Wirkung von Scham im Prozess der Teschuwa darf man nicht unterschätzen.

 

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

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