Getrübtes Licht

Trauern und Fasten: Warum wir an diesem Wintertag der Belagerung Jerusalems gedenken ...

3 Min.

Rabbiner Abraham Itzchak Radbil

gepostet auf 15.03.21

Trauern und Fasten: Warum wir an diesem Wintertag der Belagerung Jerusalems gedenken

 

Der 10. Tewet, der in diesem Jahr auf den 18. Dezember fällt, ist einer der vier Fastentage, die an dunkle Zeiten in der jüdischen Geschichte erinnern. Die anderen drei Tage sind Tischa beAw (der Tag der Zerstörung beider Tempel in Jerusalem), der 17. Tamus (der Tag des Durchbruchs der Verteidigungsmauer von Jerusalem durch Titus und die römischen Legionen im Jahre 70 n.d.Z.) und der 3. Tischri (der Tag, an dem Gedalja ben Achikam, der von den Babyloniern ernannte jüdische Gouverneur von Judäa, ermordet wurde).

 

Eigentlich wurde Gedalja an Rosch Haschana getötet, doch der Fasttag wurde auf den Tag nach Rosch Haschana vorverlegt, weil wir an diesem fröhlichen Fest nicht fasten. Allerdings wird der 10. Tewet als ein derart wichtiger Fasttag angesehen, dass er auch dann eingehalten wird, wenn er auf einen Freitag fällt – obwohl üblicherweise Schabbatvorbereitungen wichtiger sind als Fasten.

 

Dieser Tag markiert den Beginn der Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar, den König von Babylonien, im Jahr 423 v.d.Z. sowie den Beginn der Schlacht, die Jerusalem und den Tempel Salomos letztendlich zerstörte und die Juden in das 70‐jährige babylonische Exil verbannte. Das Datum des 1o. Tewet nennt uns der Prophet Jecheskel, der selbst bereits in Babylonien war – als Teil der ersten Gruppe von Juden, die von Nebukadnezar dorthin verbannt wurden, elf Jahre vor der Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Es gibt jedoch auch andere geschichtliche Ereignisse, die unmittelbar vor dem 10. Tewet liegen, und die Erinnerung daran wurde ebenfalls in diesen Fasttag integriert.

 

 

BIBELÜBERSETZUNG

 

Am 8. Tewet zwang König Ptolemäus von Ägypten 70 jüdische Gelehrte, sich zu versammeln und die hebräische Bibel ins Griechische zu übersetzen. Der Talmud berichtet uns, dass dieses Projekt mit einem Wunder gesegnet wurde, denn obwohl die 70 Gelehrten dazu gezwungen worden waren, separat voneinander in getrennten Räumlichkeiten ihre Übersetzung zu schreiben, legten sie alle eine wortgleiche Übersetzung vor. Die allgemeine Ansicht der Rabbiner der damaligen Zeit über dieses Projekt war jedoch ausgesprochen negativ. Der Talmud berichtet, dass »Dunkelheit auf die Welt herabkam«, als diese Übersetzung öffentlich wurde.

 

Diese Übersetzung wurde einige Jahrhunderte später zur Grundlage für den alttestamentlichen Teil der christlichen Bibel. Die griechische Bibelübersetzung unterstützte die Versuche der hellenistischen Juden, das Judentum im Bild der griechischen Werte und Lebensweise zu reformieren. Das »Koschermachen« der griechischen Sprache durch die Verwendung der Übersetzung der hebräischen Bibel hatte also weitreichende Auswirkungen auf die jüdische Gesellschaft und beeinträchtigte einige Bemühungen der Rabbiner im Kampf gegen die Verführung durch die Werte Griechenlands im alten Israel.

 

Am 10. Tewet wurde die Stimme Jerusalems »stumm geschaltet«.

 

Der 9. Tewet wiederum gilt als der Todestag von Esra, dem Schreiber. Diese große jüdische Persönlichkeit ist in den Augen des Talmud sogar mit Mosche Rabbenu vergleichbar: »Wenn die Tora nicht durch Mosche gewährt worden wäre, hätte sie Israel durch Esra gewährt werden können« (Sanhedrin 21b). Esra führte die Juden aus ihrem babylonischen Exil nach Jerusalem zurück. Unter seiner Anleitung und Inspiration wurde mithilfe von Nechemia der Zweite Tempel in Jerusalem erbaut – allerdings ursprünglich in viel bescheidenerem Maß und Stil als Salomos Erster Tempel.

 

Esra erneuerte auch den Bund von Mosche zwischen G’tt und Israel, ging gegen sogenannte gemischte Ehen vor, die unter den nach Jerusalem zurückkehrenden Juden sehr verbreitet waren, stärkte die Einhaltung öffentlicher und privater Schabbatgesetze und schuf den notwendigen Frieden sowie intellektuelle Werkzeuge zur Förderung des Wissens und der Entwicklung der mündlichen Lehre im jüdischen Volk.

 

Esra war ein Mann mit unbestechlichem Charakter, großem Mitgefühl, weitreichender Vision, Gelehrsamkeit und inspirierendem Charisma. Er ist für das Überleben des Judentums und der Juden bis heute verantwortlich. Kein Wunder, dass Juden den Tag seines Todes als traurigen Tag im jüdischen Kalender bezeichnet haben. Da aber das Fasten an drei Tagen, am 8., 9. und 10. Tewet, unvernünftig wäre, wird all dieser Ereignisse am Fasttag des 10. Tewet gedacht.

 

 

HUNGER

 

Ein weiterer, weniger offensichtlicher Aspekt dieses Datums ist die Tatsache, dass eine Belagerung wie am 10. Tewet 423 v.d.Z. eine Stadt (in diesem Fall Jeruschalajim) von der Außenwelt abschneidet. Das hatte zur Folge, dass keine Nahrung in die Stadt gelangen konnte und viele Menschen an Hunger starben.

 

Im weiteren Sinne bedeutet es aber auch, dass nicht nur nichts mehr in die Stadt hineinkommt; es gelangt auch nichts mehr aus ihr heraus. Jeruschalajim sollte ein Sprachrohr der Tora und ihrer Weisheit sein, und das Licht von Jeruschalajim sollte die gesamte Welt erhellen.

 

Am 10. Tewet wurde die Stimme von Jeruschalajim »stumm geschaltet« und das Licht getrübt. Niemals danach, selbst in der Zeit des Zweiten Tempels gelang es uns nicht, die frühere Größe und Pracht Jeruschalajims wiederzuerlangen. Somit dauert die Belagerung durch den babylonischen König Nebukadnezar zumindest im spirituellen Sinne bis zum heutigen Tag an und macht diesen Trauer‐ und Fasttag weiterhin aktuell.

 

Mögen wir alle sowohl spirituelle als auch materielle Pracht, Größe, Glanz, Schönheit und Herrlichkeit des wiedererbauten Jeruschalajim baldmöglichst erleben, und mögen unsere Tage der Trauer für immer der Vergangenheit angehören.

 

 

Der Autor ist Rabbiner in Osnabrück und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). Dieser Artikel erschien in der Jüdischen Allgemeinen. Mehr Infos finden Sie auf dem Blog von Rabbi Abraham Itzchak Radbil.

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