Zwei Arten von Beziehungen zu Gott

Im Gottesdienst - sowohl in sephardischen als auch in aschkenasischen Gemeinden - spricht man eine im Gebetbuch fixierte Reihe von Psalmen.

4 Min.

Prof. Dr. Yizhak Ahren

gepostet auf 17.03.21

Bemerkungen zu Psalm 27

 

Im Gottesdienst  sowohl in sephardischen als auch in aschkenasischen Gemeinden spricht man eine im Gebetbuch fixierte Reihe von Psalmen. Was Psalm 27 angeht, so ist ein Unterschied festzustellen: sephardische Juden sagen diesen Psalm tagtäglich, aschkenasische Beter hingegen fügen ihn nur in einer bestimmten Jahreszeit in die Liturgie ein, und zwar von Beginn des Monats Elul bis zum Ende des Sukkotfestes. Warum die Einfügung gerade in dieser Zeit? Eine originelle Erklärung lautet: Oberhalb der 4 Buchstaben des ersten Wortes im Vers 13, " lule" (= wenn nicht), stehen ungewöhnliche Punkte; es handelt sich nicht um Vokalzeichen. Raschi deutet diese merkwürdigen Punkte mit einem Midrasch, der uns hier nicht beschäftigen soll. Wir wollen eine andere Deutung der Punkte anführen; die besagt, dass man die 4 Buchstaben rückwärts lesen soll – das ergibt "Elul"!

 

Der aschkenasische Brauch hat wahrscheinlich einen ganz anderen Grund. Der Midrasch zu Psalm 27 deutet den ersten Vers wie folgt: "Der Ewige ist mein Licht" – am Rosch HaSchana, dem Tag des Gerichts (vergleiche Psalm 37,6:"Führe wie Licht Dein Recht hervor und Deine Gerechtigkeit wie den Mittag"). "Und mein Heil" – am Jom Kippur, an dem Er alle unsere Sünden verzeihen möge. Da der soeben zitierte Midrasch den Anfang von Psalm 27 mit den hohen jüdischen Herbstfesten verbindet, erscheint die Einfügung des Psalmes in den Gottesdienst in dieser Zeit ganz natürlich. Rabbiner Elchanan Samet, ein hervorragender israelischer Bibel-Interpret, hat in seinem 2012 veröffentlichten Psalmen-Buch überzeugend dargelegt, warum Psalm 27 zu den Tagen der Umkehr gut passt.

Dem Beispiel früherer Exegeten folgend analysiert Samet den Aufbau des Psalmes. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass zwei ungefähr gleich große Teile zu erkennen sind. 14 Verse hat unser Psalm: die ersten 6 Verse bilden eine Einheit, die Verse 7-13 eine zweite; der allerletzte Vers hebt sich von beiden Einheiten ab und kann als ein didaktischer Schluss betrachtet werden: "Hoffe auf den Ewigen. Sei stark, und mutig sei dein Herz, ja, hoffe auf den Ewigen." Wodurch unterscheiden sich die zwei Hauptteile? In der ersten Einheit spricht der Psalmist über Gott (in der 3. Person): "Der Ewige ist mein Licht und mein Heil" (Vers 1). Hingegen spricht der Psalmist in der zweiten Hälfte den Ewigen direkt an ( in der 2. Person):"Höre, Ewiger, meine Stimme – ich rufe. So sei mir gnädig und erhöre mich!" (Vers 8).

Bei näherer Betrachtung ist nicht zu übersehen, dass der Psalmist zwei Arten der Beziehungen zum Ewigen zum Ausdruck bringt. Die Tatsache, dass in beiden Hälften ein gemeinsames Motiv zu finden ist – die Notwendigkeit der Errettung von Feinden ( siehe Verse 2 & 3 und Vers 12 ) -, vermag den zentralen Unterschied nicht zu verdecken. Im ersten Teil des Psalmes sehen wir eine religiöse Haltung vor uns, die von einem tiefen Gottvertrauen ( hebr.: "Bitachon") geprägt ist; nicht der geringste Zweifel trübt diese Einstellung: " Wenn ein Lager sich um mich lagerte, würde mein Herz nicht fürchten; wenn gegen mich Krieg sich erhebt, auch dann bin ich sicher " ( Vers 3 ). Der Psalmist spürt die stete Anwesenheit des Ewigen in seinem Leben und braucht Ihn deshalb nicht direkt anzusprechen. Eine ganz andere Haltung bemerken wir im zweiten Teil des Psalmes. Hier scheint  der Psalmist  große Angst zu haben: " Verbirg Dein Antlitz nicht vor mir, strecke nicht hin im Grimme Deinen Knecht. Mein Beistand warst Du. Verstoße mich nicht und verlasse mich nicht, Gott meines Heils " ( Vers 9 ).

Warum sind die zwei Teile zu einem Psalm vereinigt worden? Vielleicht um uns beizubringen, dass unsere Beziehungen zu Gott mal so und mal so sind. Menschen durchlaufen in ihrem Glaubensleben verschiedene Phasen. Wir dürfen nicht damit rechnen, stets in einem solchen Zustand zu leben, in dem man sprechen kann: " Denn Er birgt mich in Seiner Hütte am Tag des Unglücks, bewahret mich im Schutze Seines Zeltes, stellt mich hoch auf einen Felsen " ( Vers 5 ). Manchmal gilt vielmehr die Devise: " Dein Antlitz, Ewiger, suche ich " ( Vers 8 ). Aber in welcher Lage auch immer ein Mensch sich gerade befinden mag, stets soll er mit dem Psalmisten sprechen: " Hoffe auf den Ewigen. Sei stark, und mutig sei dein Herz, ja, hoffe auf den Ewigen " ( Vers 14 ).

Wie Samet ausführt, kann man die zwei Glaubenshaltungen zwanglos mit Rosch HaSchana und Jom Kippur in Verbindung bringen. Am Neujahrsfest steht der Jude vor dem Ewigen und anerkennt ihn als sein Licht; Gott wendet sich sozusagen den Menschen zu. Am Jom Kippur ist die Beziehung anders strukturiert: Der Jude fastet und wendet sich an Gott mit der inständigen Bitte um die Verzeihung aller Sünden. Der Vergleich zwischen dem Neujahrsfest und dem Versöhnungstag lässt sich noch weiter vertiefen, und dies hat Rabbiner J.B. Soloveitchik vor vielen Jahren in einem glänzenden Essay getan, der hier nicht referiert werden soll.

 

Die zwei Arten von Beziehungen zu Gott lassen sich nach Samet auch mit dem Alter des Menschen in Verbindung bringen. Am Anfang des Lebens sollte die im ersten Teil des Psalmes beschriebene Haltung vorherrschen: Bitachon und Freude. Erst in der weiteren Entwicklung entdeckt der Mensch die im zweiten Teil von Psalm 27 dargestellte Position: Es bedarf einer Anstrengung, um das aufkommende Gefühl von Gottverlassenheit zu überwinden. Das Wissen darum,dass unsere Beziehungen zum Ewigen Metamorphosen durchmachen, ist sowohl trost- als auch hilfreich.

 

 

Der Autor ist Psychologe und hat an der Universität Köln gelehrt.

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